Digitalisierung und nachhaltige Entwicklung bringen viele Städte heute unter dem Leitmotiv der “Smart City” zusammen. Wien gilt diesbezüglich als Pionierstadt. Aber wie richtet man rund 65'000 städtische Angestellte auf eine gemeinsame Vision aus? Welche organisatorischen Innovationen braucht es dafür? Und wie schafft man es, dass diese nicht als wirkungslose Alibiübungen enden? Darüber haben wir mit Dominic Weiss gesprochen, Leiter der Smart-City-Agentur von Urban Innovation Vienna.
Herr Weiss, was ist Ihr Job bei Urban Innovation Vienna, dem “Wiener Kompetenzzentrum für städtische Zukunftsfragen”?
Die Verwaltung der Stadt Wien folgt einer über lange Zeit gelernten und gewachsenen Struktur. Grundzüge davon sind bereits zu Zeiten der K&K-Monarchie im 18. und 19. Jahrhundert etabliert worden. Das heisst, dass sie über Jahrhunderte gelernt hat, in ihren spezifischen Sektoren herausragende Arbeit zu leisten.
Das Problem ist nur, dass sich die Welt verändert. Wir werden konfrontiert mit bereichsübergreifenden, horizontalen Herausforderungen und begegnen diesen mit sektoral gewachsenen Strukturen. Das Ergebnis ist dementsprechend oft schlecht: Themen wie Energieeffizienz oder effektive CO2-Verringerungen im Mobilitätsbereich kriegen wir mit dem bisherigen linearen Denken nicht hin.
Mein Job ist deshalb, über den Tellerrand zu blicken und diverse Stakeholder mit frischen Projektideen in das bestehende Ökosystem zu bringen. Es geht darum, für die Stadt neue Governance-Systeme zu entwickeln, damit die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt gemeinsam an diesen Herausforderungen arbeiten. Ich mache zu 90 Prozent nichts anderes als Governance-Arbeit.
Wie bringt Ihre Governance-Arbeit die Smart-City-Bestrebungen in Wien ganz konkret vorwärts?
Die Stadt Wien hat im Rahmen ihrer Smart-City-Rahmenstrategie 12 Zielbereiche definiert. Die vielen Einzelziele stehen miteinander in Beziehung, und oft gilt es, Zielkonflikte aufzulösen. Die meisten der Ziele sind Visionen. Wien arbeitet aber auch mit beinharten und quantitativ exakt messbaren Kriterien: Erneuerbare Energieträger verdoppeln und motorisierten Individualverkehr auf 15 Prozent verringern bis 2030, 85 Prozent CO2 einsparen bis 2050 und vieles mehr.
Die definierten Ziele haben wir nicht einfach abgeschrieben, sondern sind für den Standort Wien genau durchgerechnet. Wenn wir also den Individualverkehr um weitere sieben Prozent bis 2025 senken wollen, dann ist das nicht erfunden, sondern wir wissen ganz genau, was dahinterstecken muss. Die Frage ist nur, wie wir diese sieben Prozent effektiv erreichen. Dafür brauchen wir ein orchestriertes Zusammenspiel von Massnahmen auf verschiedenen Ebenen - von der Park & Ride Anlage über verdichtete S-Bahn Takte bis hin zu neuen Sharing- und Ticketing-Systemen.
Dieser Blumenstrauss muss einem roten Faden folgen, und jemand braucht den Überblick. Wir sind dabei keine Mobilitäts- oder Energieexperten, sondern Moderatoren und Brückenbauer, Broker, wenn sie so wollen, damit die 65’000 Angestellten der Stadt Wien gemeinsam mit Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft unserer Stadt eine Smart City realisieren können. Hehre Strategien werden in einem so komplexen System nur durch tausend kleine Lösungen und alltagsrelevante Projekte Wirklichkeit.
Hehre Strategien werden in einem so komplexen System nur durch tausend kleine Lösungen und alltagsrelevante Projekte Wirklichkeit.
Wie gehen Sie vor, um das komplexe System “Wiener Stadtverwaltung” auf solche zentrale Leitlinien auszurichten?
Unsere Arbeit besteht darin die handelnden Akteure bestmöglich zu unterstützen und Win-Win Situationen aufzuzeigen. Dabei versuchen wir mit guten Angeboten und Projektideen innovative Akteure und Stakeholder davon zu überzeugen, aktiv den Prozess mitzugestalten.
Unsere Arbeit ist eine Mischung aus Top-Down und Bottom-Up Zugängen. Im Mobilitätsbereich etwa benötigen wir manchmal ein Regulativ, weil wir Parkplätze auf partizipativem Wege nicht immer zurückbauen könnten. Die Flächenbezirke würden Massnahmen, die im innenstädtischen Kontext funktionieren und auf Akzeptanz treffen, vor ihrer Haustür nicht immer unterstützen.
In anderen Bereichen arbeiten wir viel stärker über Befähigung, wie zwei Beispiele zeigen:
- Die MA33 - Wien Leuchtet, als Magistratsdienststelle verantwortlich für öffentliche Beleuchtung in Wien, hat über Jahrzehnte einfach über 100’000 Strassenleuchten und mittlerweile über 1’200 Ampelanlagen verwaltet. Im Zuge der Smart-City-Wien hat sich herausgestellt, dass die eigene Infrastruktur total relevant für die städtischen Ziele ist. So hat sie nicht nur komplett auf LED umgerüstet, sondern macht sich heute an die Umsetzung eines innovativen Ampelsystems mit künstlicher Intelligenz und betreibt die Lade-Infrastrukturen im öffentlichen Raum. Das Portfolio der Dienststelle wächst, weil sie den Puls der Zeit erkannt hat und wir versuchen, Ihnen die Türen zu relevanten Spielern zu öffnen. Das ist ein Beispiel für Smart City Governance.
- Ein weiteres Beispiel ist der Hafen Wien. Hier macht eine junge Truppe hoch innovative Forschungsprojekte etwa im Bereich Logistik der letzten Meile - die Feinverteilung zu den EndnutzerInnen und Haushalten. Vor zwei Jahren dachte niemand, dass dies am Hafen Wien möglich sei. Unser Job war es, ihnen dabei zu helfen, ihr Aufgabenportfolio anzupassen. Auch das zeigt, wie sich Systeme weiterentwickeln und wie Verwaltungseinheiten zur Transformation befähigt werden können.
In beiden Beispielen haben Einheiten innerhalb einer Verwaltung ihr Business-Modell praktisch komplett verändert.
Das ist richtig, und das ist natürlich im hoheitlichen Kontext viel schwieriger zu leisten als in einem Privatunternehmen. Allerdings bietet gerade Smart City Wien vielen der etwa 200 Unternehmen und Fachdienststellen der Stadt Wien Möglichkeiten, sich neu auszurichten.
Aber: Wenn einzelne Abteilungen Bottom-Up innovativ sein sollen, müssen sie auch auf einen Resonanzkörper ganz oben treffen. Sonst ist die Übung wertlos. Deshalb involvieren wir die Führungsebene der Wiener Stadtverwaltung in der Smart City, um operativen Akteuren wie dem Hafen oder der Beleuchtungsfachdienststelle einen Raum zu bieten und das Gehör der EntscheidungsträgerInnen zu finden.
Wenn einzelne Abteilungen Bottom-Up innovativ sein sollen, müssen sie auch auf einen Resonanzkörper ganz oben treffen. Sonst ist die Übung wertlos.
Ist die Verwaltung durch Smart City nicht nur intern, sondern auch gegenüber aussen stärker vernetzt?
Ja, auch. Im Endeffekt sitzen die Beamten der Stadt Wien am Tisch, wollen innovativ sein und sind dies auch - aber sie brauchen Unterstützung aus der Community. Sie brauchen Unis, Start-Ups und Technikfirmen und zivilgesellschaftliche Akteure, welche oftmals eine andere Sprache sprechen. Auch hier leisten wir Übersetzungsarbeit. Die Reise geht oft in Richtung Joint Ventures oder PPP-Modelle.
Wir sind zum Beispiel auch deshalb erfolgreich, weil wir unsere Infrastruktur als Testobjekt für international tätige Unternehmen anbieten. Das passiert etwa in Stadtentwicklungsgebieten wie aspern Seestadt. Das ist für beide Seiten ein Gewinn. Anders als früher agieren wir heute eher auf Augenhöhe und spielen das Spiel mit. Ziel ist es, kritisches Know-How in der Stadt zu akkumulieren bzw. zu erhalten, damit man effektive faire Kooperationen mit anderen Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft eingehen kann.
Denn: Bei der Digitalisierung geht es letztlich um die ökonomische Verwertung von Daten. Das haben Private schon lange verstanden. Die Städte sind allerdings oftmals Eigentümer ihrer Infrastruktur, betreiben diese und generieren Daten - das interessiert die Unternehmen noch mehr als die Erkenntnisse aus Pilotprojekten. Wenn wir hier mit Privaten kooperieren, müssen wir dieses Spiel verstehen. Hier stehen wir auch mit vielen anderen Städten im Austausch, um zu lernen.
Bei der Digitalisierung geht es letztlich um die ökonomische Verwertung von Daten. [...] Wenn wir hier mit Privaten kooperieren, müssen wir dieses Spiel verstehen.
Und wie sieht es mit dem Einbezug der EinwohnerInnen aus - immerhin eines der zentralen Themen der aktuellen Smart-City-Ansätze?
Partizipation ist seit einigen Jahren ein grosses Thema. Die Digitalisierungsstrategie, die wir in der Stadt Wien entwickeln, steht online als auch offline immerwährend zur Diskussion. Unter dem Schlagwort Digitaler Humanismus versuchen wir hier den Bogen von Digitalisierung zur sozialen Inklusion zu Ethik und Bürgersouveränität zu spannen. Im Stadtentwicklungsprozessen findet Partizipation selbstverständlich auch statt, aber ganz ehrlich: Partizipation steckt in Wien noch in den Kinderschuhen. Wir wollen aber von der Avantgarde lernen. In Paris etwa wird über fünf Prozent des gesamten Budgets bereits partizipativ verwaltet.
Es ist immer die Frage, wie demokratisch die Prozesse ablaufen. Meist erwischt man ja nur ein kleines Segment, das nicht gesamtgesellschaftlich repräsentativ ist - ein Problem, weil die Stadtpolitik schliesslich demokratisch organisiert ist und daraus ihre Legitimation erfährt. Die Städte sind auch viel zu vielfältig und zu komplex, um sich von Einzelnen leiten zu lassen - schliesslich gibt es nicht die Bürgerin oder den Bürger, sondern ganz verschiedene Interessen.
Nichtsdestotrotz: Wenn wir unsere Services digital machen, zum Beispiel das Ticketingsystem der Wiener Linien, testen wir diese direkt mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen, bevor sie in den Regelbetrieb gehen. Ein gutes Beispiel sind unsere Projekte, die Senioren mit digitalen Services und Technologien vertraut machen wollen. BürgerInnen in die Entwicklung unserer Produkte und Services früh einzubinden, ist im Sinne von Open Innovation absolut sinnvoll.
BürgerInnen in die Entwicklung unserer Produkte und Services früh einzubinden, ist im Sinne von Open Innovation absolut sinnvoll.
Gibt es bei Ihnen Bereiche, wo breite Partizipation keinen Sinn macht?
Grundsätzlich bei komplexen technischen Prozessen, die im Hintergrund ablaufen. Stichwort „Hidden Innovation“. Da stellen wir die grundsätzliche Frage: Steigern wir mit einer Massnahme die Lebensqualität in der Stadt? Wenn die Antwort nach einer fundierten interdisziplinären Evaluierung positiv ausfällt, dann beteiligen wir die BürgerInnen nicht. Um den Verkehrsfluss zu verbessern, brauchen wir einen guten Algorithmus, nicht zwingend mehr Beteiligung. Aber wenn sich dann jemand den offenen Source-Code anschauen will, dann sollte das möglich sein. Wenn richtig zur Verwendung gebracht, haben Open-Source und Open Data riesiges Potenzial. Die Qualität und Resilienz der Systeme, die von allgemeinem Interesse sind, müssen aber gesichert sein.
Zum Schluss: Was bedeutet Smart City eigentlich für Sie in Wien? Städte gehen ja ganz verschieden mit dem Smart-City-Begriff um.
Richtig. Insbesondere im asiatischen Raum ist Smart City oftmals eine IT-Geschichte. Im europäischen Raum haben viele Städte einen ganzheitlicheren Ansatz gefunden. Wenn sie etwa nach Hamburg schauen, dann ist Smart City vor allem Mobilität und Logistik. In Wien haben wir dieses Thema 2012 aufgegriffen, als es noch wenige Referenzwerte gab. Die Smart City Wien Rahmenstrategie möchte im Wesentlichen, die höchste Lebensqualität für alle Wienerinnen und Wiener bei gleichzeitig maximaler Ressourceneffizienz sicherstellen. Das geht nur mit sozialer und technologischer Innovation!
In Wien ist soziale Gerechtigkeit und soziale Klammer stets die Klammer. Das ist alles drin. Der Mensch ist im Mittelpunkt und Smart City betrifft so gut wie alle städtischen Lebensbereiche. In den einzelnen Bereichen gibt es jedoch immer Städte, die führend sind: Es vergeht daher kein Tag, an dem ich nicht mit Städten wie Berlin, Amsterdam oder Stockholm telefoniere und mit Belgrad oder Zagreb Erfahrungen austauschen.
Aber es gibt keine einzige Stadt auf der Welt, die über die Breite in allen Bereichen führend ist. Deswegen glaube ich, dass wir in Wien gut für die Transformation aufgestellt sind ,weil wir unsere Stärken haben, darüber hinaus überall zumindest solide sind und im internationalen Vergleich keinen einzigen stark defizitären Bereich. Das ist das Geheimnis der Stadt Wien.
Herr Weiss, vielen Dank für das Gespräch.
Dominic Weiss leitet die Smart-City-Agentur von Urban Innovation Vienna, Wiens Kompetenzzentrum für städtische Zukunftsfragen. Sein Interessensschwerpunkt liegt in der Erforschung und Entwicklung multidisziplinärer urbaner Systeme, in denen soziale Inklusion, Technologie und Kreativität eine wichtige Rolle spielen. Zuvor war er für die Wirtschaftsagentur Wien als EU-Experte an zahlreichen transnationalen Projekten in den Themenfeldern IT-Lösungen, Umwelttechnologien und erneuerbare Energiequellen beteiligt.
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