Am 1. Juli 2018 ist das neue Tiroler Behindertenhilfegesetz in Kraft getreten. Die einstimmig verabschiedete Vorlage wurde nicht nur auf dem üblichen Weg erarbeitet. Zentrales Moment des Gesetzgebungsprozesses war das “legislative Theater”, bei dem Menschen mit Behinderungen alltägliche Situationen aus dem Kontakt mit den Behörden nachspielten. Das Projekt, bei dem über 1500 Tiroler/innen mitwirkten, steht für Christine Baur für einen partizipativen Ansatz öffentlicher Politik. Im Interview mit dem staatslabor erzählt die ehemalige Tiroler Landesrätin für Soziales und Initiantin des Projekts von den anfänglichen Widerständen, den Erfolgsfaktoren und der Wichtigkeit, bei innovativen Vorhaben Allianzen über verschiedene Verwaltungsbereiche hinweg zu bilden.
Frau Baur, vielen Dank, dass wir mit Ihnen über das “legislative Theater” sprechen können. Wie wurde Ihr Interesse für die Themen Mitbestimmung und Gleichberechtigung geweckt?
Ich habe mir beruflich und gesellschaftlich seit jeher Gedanken darüber gemacht, was gleiches Recht für Mann und Frau sowie für verschiedene Minderheiten bedeutet. Menschen ängstigen sich schnell vor Fremdem, was Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat. Dazu schweigt man entweder oder engagiert sich. Ich habe mich für letzteres entschieden und ging für die Grünen in den Tiroler Landtag, wo ich mich den Themen Frauen- und Behindertenrechte, Asyl- und Migrationsfragen, Armutsbekämpfung und Kinder- und Jugendhilfe widmete. Es war und ist mir sehr wichtig, Demokratie so zu verstehen, dass die Regelungen von den Betroffenen mitbestimmt werden.
Betroffene zu Beteiligten machen, ist ein urdemokratisches Anliegen. Aber es stellen sich immer zwei grundsätzliche Fragen: Wer ist eigentlich betroffen? Und wer ist dann auch berechtigt, beteiligt zu werden?
Mit diesen Fragen haben wir uns im Fall des neuen Behindertenhilfegesetzes natürlich auch beschäftigt. Das vorgängig bestehende Rehabilitationsgesetz war ein reines Verwaltungsgesetz. Es bestimmte, wer für Unterstützung berechtigt war. Der Austausch fand hauptsächlich zwischen der Verwaltung und den verschiedenen Betreuungseinrichtungen statt. Es gab viele Anläufe, um das Gesetz zu ändern, aber verschiedene Initiativen wurden sehr feindlich aufgenommen, weil sie einen Systemwechsel forderten. Für mich waren diese Strukturen und Reaktionen immer spannend zu beobachten. Als ersten Schritt hat man dann im sogenannten Transparenzprozess alle Einrichtungen an einen Tisch gebracht und verlangt, dass diese ihre Leistungen offenlegen. Wertvoll war vor allem die Kommunikation zwischen den verschiedenen Institutionen, die sich in einer Arbeitsgemeinschaft organisierten. Diese repräsentierte natürlich eher die Einrichtungen als die betreuten Menschen. Ich fand es damals schon wichtig, dass wir uns mehr auf die betreuten Menschen fokussieren und sie in den Prozess einbinden.
Wie entstand die Idee, mit dem “legislativen Theater” einen völlig neuen Ansatz der Rechtssetzung zu lancieren?
Dies war ein lang gehegter Wunsch von mir. Konfliktprävention lag mir schon immer sehr am Herzen, und ein solches Theater bot für mich die Möglichkeit, Lebenssachverhalte näher zu bringen und verschiedene Menschen daran zu beteiligen. Als ich dies der Beamtenschaft erzählt habe, dachten diese, ich dreh jetzt völlig durch. Nur schon der Begriff “Theater” hat sehr viel Widerstand und Angst ausgelöst. Die Beamtenschaft ist mit dem traditionellen demokratischen Prozess vertraut, und ein Theater entsprach überhaupt nicht dem üblichen Vorgehen. Zudem fand dies alles während der Flüchtlingskrise statt, als viele Menschen Asyl in Tirol suchten. Die Beamten waren zu dem Zeitpunkt mit den vielen Anfeindungen, aber auch der organisierten Hilfsbereitschaft überfordert. Und dann kam ich noch mit der Idee eines Theaters. (Lacht)
Niemand dachte, dass es dann tatsächlich zustande kommen würde. Ich erhielt die Unterstützung von den grünen Abgeordneten, welche mich gemeinsam mit Abgeordneten von anderen Parteien formal im Parlament durch einen Landtagsbeschluss dazu berufen haben, dieses Projekt in die Wege zu leiten.
Sie haben dann das Projekt umbenannt. Weshalb?
Da ich festgestellt habe, dass in der Verwaltung niemand etwas mit dem Begriff “legislatives Theater” anfangen konnte, habe ich das Projekt in “partizipativer Gesetzgebungsprozess” umbenannt. Dies war sehr wichtig, da es eher der traditionellen Ausdrucksweise entspricht. Auch der formale Beschluss und die Unterstützung und Rückhalt der anderen Abgeordneten hatten eine sehr grosse Bedeutung, weil ich mich im Laufe des Projekts immer wieder darauf berufen konnte. Ein anderer Punkt stellten bereits bestehende partizipative Formate dar: Im Monitoring-Ausschuss für die Überwachung der Umsetzung der UNO Behindertenrechtskonvention waren schon lange behinderte Menschen vertreten. Auf dieser Grundlage konnte dann auch das Theater entstehen. Allianzen sind auf jeder Ebene wichtig. Schlussendlich geht es immer um Kommunikation, Zusammenarbeit und Verständnis.
Wie ging das Projekt weiter?
Ich kann mich noch an das erste Treffen erinnern. Die meisten Beteiligten haben das Projekt und die Intention dahinter falsch verstanden und waren enttäuscht. Sie wollten der Landesrätin einfach mal mitteilen, was grundsätzlich alles falsch läuft. Darunter waren Menschen mit Behinderungen, aber vor allem auch Eltern. Wir haben ihnen erklärt, um was es geht, und beim zweiten Treffen hat es dann funktioniert. Im Ganzen fanden 21 Veranstaltungen statt. 30 Personen mit Behinderung haben an der Erarbeitung der Szenen des Theaterstücks gearbeitet und über 1500 Tirolerinnen und Tiroler haben insgesamt am Projekt mitgewirkt.
Was waren die Rückmeldungen der Teilnehmenden, der Bevölkerung, der Verwaltung und der Politik?
Die Rückmeldungen fielen allesamt sehr positiv aus und das Interesse ist dadurch auch von aussen sehr gewachsen. Eine Szene wurde “der Brief” genannt und zeigte eine betroffene Person, die einen Entscheid von einer Behörde erhält und wegen des Amtsdeutsch den Inhalt nicht wirklich versteht. Es war klar, dass die juristischen Ausdrücke nicht einfach gestrichen werden können, aber dass gleichzeitig verständlichere Ausdrücke und eine einfachere Sprache verwendet werden sollen - eine Neuerung, die bewirkte, dass dann plötzlich viel mehr Menschen die Kommunikation der Verwaltung verstehen konnten. Wenn Barrieren abgebaut werden, kommt dies der ganzen Gesellschaft zugute und nicht nur den Betroffenen. Zudem hat niemand mehr Ahnung von den Bedürfnissen der Betroffenen als diese selber. Diese Zusammenarbeit auf Augenhöhe hat gezeigt, welche Vorteile sich daraus ergeben. Es war ein tolles Erlebnis für alle Mitwirkenden.
Wie sah die Schnittstelle zum politischen Prozess aus? Wie wurde die Übersetzung ins Gesetz vollzogen?
Dies war die grosse Leistung von Thomas Jenewein, einem Juristen, der ein paar Jahre zuvor einen Vorschlag für ein neues Behindertengesetz unterbreitet hatte, damals aber gescheitert war. Anstatt aufzugeben, hatte er den Vorschlag reflektiert und sah, was man hätte anders machen können. Diese Reflexion und Überwindung von falschem Stolz ist bei der innovativen Lösung von schwierigen Aufgaben sehr wichtig. Er übernahm sodann die Übersetzung von den Ergebnissen des Theaters ins neue Behindertenhilfegesetz. In den erläuternden Bemerkungen zum Gesetzestext ist vermerkt, was aus dem Projekt eingeflossen ist. Nach dem normalen Gesetzgebungsprozess haben wir die Beteiligten nochmals im Rahmen eines Ausschusses miteinbezogen. Mir war das sehr wichtig, obwohl der Zeitdruck sehr gross war. Wir wussten, dass wir das Gesetz unbedingt in der damaligen Legislaturperiode abschliessen müssen, da sonst wieder andere Leute zuständig gewesen wären und der erneute Anlauf eine weiteres Mal hätte scheitern können. Mit grossem Einsatz von allen Beteiligten hat es aber schlussendlich geklappt. Im Landtag wurde eine Szene des Theaters aufgeführt, bevor das Gesetz dann einstimmig angenommen wurde. Das war wirklich ein grosser Erfolg.
Was für Auswirkungen hatte das Projekt? Wie genau beeinflusste das Projekt die politische Entscheidungsfindung?
Der Fokus auf Nutzer/innenrechte und Selbstvertretung hätte ohne das Projekt sicherlich nie so realisiert werden können. Die Widerstände der Einrichtungen waren nämlich sehr gross. Die Nutzer/Innen haben ein persönliches Budget erhalten, das sie nun eigenständig verwalten können. Eine andere Wirkung des Projekts betrifft die Formulierungen des Gesetzes. Das ganze Gesetz ist in weiblicher Form geschrieben. Ich wollte eigentlich eine geschlechterneutrale Sprache, schlussendlich haben wir uns auf die weiblichen Formen geeinigt. Dies wäre sonst ebenfalls nicht möglich gewesen.
Man darf auch nicht vergessen, dass es hier um viel Geld ging. Die Befürchtung, dass die Kosten ins Unermessliche steigen, wenn alle mitreden dürfen und persönliche Budgets erhalten, war weit verbreitet. Dies, obwohl meiner Meinung nach mehr Selbstbestimmtheit für die Menschen ganz klar zu einer Kostensenkung führt. Erstaunlicherweise war die Finanzierung irgendwann kein Thema mehr. Die Unterschiede in der Parteipolitik konnten durch den Ansatz des legislativen Theaters überwunden werden. Plötzlich ging es um das Verständnis von menschlichen Bedürfnissen.
Inwiefern hat das Projekt auch Haltungen innerhalb der Verwaltung verändert?
Die Sichtweise der Verwaltung hat sich auf jeden Fall geändert. Man hat realisiert, wie wichtig es ist, in die Lebensrealitäten hinauszugehen und die verschiedenen Ebenen der Verwaltung in den Prozess einzubinden.
Uns wurde aber auch bewusst, wie viel noch zu tun ist. Wenn es um Zugang zu Bildung bei Menschen mit einer Behinderung geht, wie beispielsweise inklusive Schulen und Kinderbetreuung, sind die Mauern der Verwaltung immer noch sehr hoch. Der erste Entwurf des Gesetzes wurde in der Verwaltung als “Sozialabteilungsabschaffungsgesetz” bezeichnet. Ich habe geantwortet, dass die Abschaffung der Sozialabteilungen effektiv eine gute Idee wäre. Dass Menschen mit Behinderung, wenn es etwa ums Wohnen oder die Schule geht, auf die Wohn- oder Schulbehörde gehen. Dass sie also immer in die allgemeinen Abteilungen gehen und nicht in solche, die sie immer gesondert behandeln. Dies ist aber weiterhin nicht der Fall. Wir haben zwar Löcher in die Mauer gerissen, aber sie steht immer noch - und mit ihr die althergebrachten Silos in der Verwaltung.
Wie könnte man Menschen mit Behinderung und andere Minderheitsgruppen auch für Themen über deren unmittelbare Betroffenheit hinaus mobilisieren und deren Partizipation auf viele Bereiche ausweiten? Welche Möglichkeiten böte hierzu die Methode des legislativen Theaters?
Es gibt schon viele Ideen dafür. In Tirol wurde beispielsweise ein Gruppe gebildet, die speziell Menschen mit Behinderungen mit einbezieht und für ein Bauprojekt zu Rate gezogen wurde. Für mich ist die Frage, ob Menschen mit Behinderungen auch in anderen Bereichen partizipieren sollen, obsolet. Denn eine Behinderung wirkt sich immer auf alle Lebensbereiche aus und deshalb muss man auch in allen Themen mitreden können.
Im Bereich Migration kommt mir die “Pass egal”-Bewegung in Österreich in den Sinn, welche untersucht, wie Abstimmungen verlaufen würden, wenn sich auch Menschen ohne Stimmrecht einbringen könnten. Im Asylbereich hat es bereits mehrere Forumstheater mit Flüchtlingen gegeben. Dort liegt die Problematik darin, dass die Kompetenz in der Flüchtlingsthematik auf Bundesebene liegt. Aber das alleine sollte kein Grund sein, sich hier nicht für ein Miteinander einzusetzen. Es ist mittlerweile sicheres Wissen, dass Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit an den Orten, wo Kontakt stattfindet, am geringsten ist. Aufeinanderzugehen ist die Lösung für viele vorurteilsbehaftete Probleme. Es gibt bisher auch zu wenig Vorbilder. Sobald ein gutes Beispiel existiert und die Menschen sehen, dass diese Projekte wirklich funktionieren, lässt sich das Potenzial erkennen.
Wo sehen Sie aktuell die grössten Herausforderungen und Chancen für eine partizipative Verwaltungs- und Politikkultur?
Wenn es um Menschen mit Behinderung geht, dann ist es gesellschaftlich anerkannt, sich zu engagieren. Sobald es um Themen geht, wo Macht und Einfluss ins Spiel kommen, sind die Barrieren schwieriger zu überwinden. Das wären etwa die Bereiche Schule, Flüchtlinge und Frauen. Uns ist es beispielsweise bis jetzt nicht gelungen, eine Schule für alle zu errichten und die Sonderschulen abzuschaffen. Ein anderer Punkt ist die Tatsache, dass meist alle vom Abbau von Barrieren für Menschen mit Behinderungen profitieren können. Macht man einen Gehsteig barrierefrei, kann auch ein Elternteil mit dem Kinderwagen besser darüberfahren. Geht es jedoch um Themen wie Migration und Frauen, wird man durch neue Modelle herausgefordert, weil sie zu systemischen Veränderungen führen können. Da sind die Fronten auch schon sehr verhärtet und es braucht Menschen, die unermüdlich versuchen, Brücken zu bauen. Das erfordert einen langen Atem und viel persönlichen Einsatz.
Christine Baur ist Doktorin der Rechtswissenschaft und Mediatorin. Nach ihrer Ausbildung zur Juristin hat Christine Baur zehn Jahre als Assistentin an der Universität Innsbruck gearbeitet und geforscht, unter anderem zu Theorien des Feminismus. Anschliessend war sie Anwältin in der Ombudsstelle für Gleichbehandlung, an welche sich Frauen und Männer wenden, wenn sie sich an ihrer Arbeitsstelle in der Privatwirtschaft aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert fühlen. Sie war fünf Jahre Abgeordnete im Tiroler Landtag und weitere fünf Jahre Landesrätin für Soziales in der Landesregierung. Das neue Behindertenhilfegesetz, das während ihrer Amtszeit erarbeitet wurde, trat im Juli 2018 in Kraft.
(Photo: meinbezirk.at)