Während die Schweizer Behörden hauptsächlich damit beschäftigt sind, ihre Dienstleistungen überhaupt digital anzubieten, läuft bereits der nächste Schritt der digitalen Verwaltung. Dieser stellt eine grundsätzliche Änderung dar und bedarf deshalb einer besonders ausführlichen Debatte um das Potenzial zu nutzen und Risiken zu minimieren.
Von Gastautor Nicolas Zahn
Dass sich öffentliche Verwaltungen weltweit angesichts des technologischen Fortschritts und wandelnder gesellschaftlicher Bedürfnisse und Erwartungen anpassen müssen, sollte keine Neuigkeit mehr sein. Der Fokus liegt dabei, auch in der Schweiz, auf einer Anfangsphase der digitalen Transformation. In dieser geht es hauptsächlich darum, bisher analoge Dienstleistungen digital zugänglich zu machen.
Idealerweise wird dabei nicht einfach ein bisheriger Prozess abgebildet – man denke an das Formular welches es nun einfach als PDF gibt – sondern, man passt auch gleich den Prozess entsprechend an und fragt z.B. benötigte Informationen über eine entsprechende Maske ab bzw. verknüpft auf intelligente Art und Weise bereits vorhandene Informationen, um die Nutzung für Bürger*innen so einfach und niederschwellig wie möglich zu machen. Stichworte hier sind user-centered design und das once-only Prinzip zu welchem sich die Schweiz übrigens bereits 2017 verpflichtet hatte, welches aber noch auf sich warten lässt.
Doch selbst wenn behördliche Dienstleistungen bereits digital sauber angeboten werden, so bleibt doch ein Punkt gleich wie bei analogen Behördendienstleistungen: die Dienstleistung muss durch Einwohner:innen aktiv nachgefragt werden. Es ist immer noch meine Aufgabe, im Bedarfsfall eine behördliche Dienstleistung auf nicht immer ganz übersichtlichen Websites ausfindig zu machen und nachzufragen.
Warum erwähne ich diesen Punkt?
Weil es Dank der Digitalisierung eben auch anders sein könnte. Behördliche Dienstleistungen könnten nämlich nicht auf Nachfrage, sondern automatisiert angeboten werden.
Das kann beginnen bei reinen Empfehlungen – analog zu den Empfehlungen in Online-Shops: Wer eine Steuerklärung eingereicht hat, möchte vielleicht auch einen Auszug aus dem individuellen Konto der AHV. Und es kann weitergehen hin zur automatisierten Durchführung gewisser behördlichen Dienstleistungen und Prozesse, gekoppelt an bestimmte Bedingungen. Warum nicht automatisch eine Prämienverbilligung beantragen, wenn das steuerbare Einkommen klarmacht, dass man berechtigt wäre?
Der Schritt von der digitalen Verwaltung mit Nachfragelogik hin zur «proaktiven Verwaltung» ist bereits im Gange, wie ein Whitepaper der Hertie School of Governance und Nortal zeigt, so u.a. in Österreich, Estland und Neuseeland.
Doch warum würde man eine automatisierte Verwaltung überhaupt wollen? Ein Punkt ist sicherlich Bequemlichkeit und Lebensqualität. Niemand verbringt gerne Zeit mit Behördengängen. Wenn nun staatliche Dienstleistungen sogar proaktiv zur Verfügung gestellt werden, ist das extrem bequem für die Bürger*innen.
Auch für die Verwaltung kann dieser Wechsel vorteilhaft sein, da er zusätzliche Effizienzgewinne verspricht durch die Automatisierung von Prüfungen. Ich würde einem weiteren Argument des Whitepapers zustimmen, dass eine proaktive Verwaltung auch fairer und gerechter sein kann.
Gewisse behördliche Dienstleistungen stehen zwar de jure zur Verfügung, werden aber faktisch nicht unbedingt von allen genutzt, die davon profitieren könnten. Man muss wissen, dass man z.B. Anspruch auf eine bestimmte Dienstleistung hätte und man muss wissen, wie man diese in Anspruch nehmen kann. Diese Hürden entfallen bei der proaktiven Verwaltung, welche automatisiert und nach klaren Kriterien gewisse Prozesse auslöst.
Sollten wir uns also auf diese Zukunft freuen, ja, diesen Wandel sogar aktiv vorantreiben und beschleunigen?
Jein, denn der Schritt hin zu einer automatisierten und proaktiven Verwaltung ist nicht ohne Herausforderungen und Risiken. So warnen Organisationen wie AlgorithmWatch vor dem allzu freizügigen Einsatz algorithmischer Entscheidungssysteme, denen bei der Bereitstellung proaktiver Verwaltung eine zentrale Rolle zukommt.
Bisherige Erfahrungen mit solchen Systemen zeigen die Gefahren beim Einsatz auf, z.B. in den Niederlanden und Skandalen im entsprechend automatisierten Sozialstaat. Aber auch bei internationalen Organisationen kommen solche Systeme zum Einsatz und können dabei erhebliches Leid verursachen, wie eine Studie von Human Rights Watch für ein Hilfsprogramm der Weltbank aufgedeckt hat.
Wie also weiter?
Es wäre falsch von Behörden, den Schritt hin zum proaktiven Ansatz komplett zu ignorieren oder zu verbieten. Aber da dieser Schritt eine grundlegende Abkehr vom bisherigen Modell darstellt und komplexe Fragen aufwirft, die einer breiten politischen Debatte bedürfen, braucht es hier mehr Aufmerksamkeit des Gesetzgebers.
Es müssen klare Rahmenbedingungen geschaffen werden und die technischen sowie organisatorischen Grundvoraussetzungen, z.B. Datenverfügbarkeit, müssen erst einmal geschaffen werden. Um den Gefahren und gesellschaftlichen Misstrauen entgegenzuwirken braucht es ausserdem klare Transparenz bei der Ausgestaltung und Durchführung erster Projekte.
Die Schweiz sollte sich frühzeitig auf den Schritt hin zur proaktiven automatisierten Verwaltung vorbereiten und die entsprechenden Diskussionen mit der nötigen Dringlichkeit forcieren.
Nicolas Zahn hat in Zürich, Genf und Washington DC Politik und Internationale Beziehungen studiert und war Fellow des Mercator Kollegs für Internationale Aufgaben mit Schwerpunkt Digitale Transformation im öffentlichen Sektor. Er arbeitet als selbstständiger Digitalisierungsberater sowie als Digital Trust Expert bei der Swiss Digital Initiative und ist bei der FDP politisch engagiert.