Herr Prof. Dr. Hofstetter, zuerst einmal ein ganz grosses Dankeschön, dass Sie dieses Interview zum Thema Crowdsourcing mit uns führen. Diese Methode wird seit vielen Jahren im privaten Sektor angewendet, um Ideen und Meinungen von Konsument/innen aufzunehmen. Zunehmend interessieren sich auch die öffentlichen Verwaltungen dafür, welche darin eine effiziente Art und Weise sehen, die Bürger/innen in die Entwicklung eines bedürfnisorientierten Service Public einzubeziehen.
Im Zuge Ihrer Recherchen haben Sie eine Vielzahl von Crowdsourcing-Projekten analysiert. Generell gesagt, warum nutzen Unternehmen diese Art von Prozess und welchen Mehrwert schafft er im Vergleich zu rein internen Innovationsprojekten?
Crowdsourcing wird üblicherweise in einer frühen Phase des Innovationsprozesses eingesetzt und bietet Firmen einen Zugang zu externen Ideen und Perspektiven. Durch die üblicherweise sehr zahlreichen Ideen erhöht sich die Chance, auch wirklich gute Ideen zu finden. Zusätzlich ist Crowdsourcing auch eine Möglichkeit, Kunden in den Innovationsprozess zu involvieren. Gerade Kunden von starken Marken, wie etwa Starbucks oder Coca Cola, teilen sich gerne freiwillig mit. Kunden haben durchaus auch sehr konkrete und wertvolle Verbesserungsvorschläge. Jede zusätzliche Idee bietet grundsätzlich eine weitere Chance für eine Innovation.
Welches sind Ihrer Meinung nach und gemäss Ihren Recherchen die wichtigsten Elemente für einen guten Crowdsourcing-Prozess?
Für ein gelungenes Crowdsourcing sind unterschiedliche Elemente zu berücksichtigen, die je nach den Zielen, die damit verfolgt werden sollen, anders gestaltet werden müssen. Dies beginnt etwa bei der Formulierung der Aufgabenstellung, der Auswahl der Crowd oder auch der Gestaltung des Anreizsystems. Das Anreizsystem beispielsweise wirkt sich direkt auf die Anzahl und Art der Beiträge aus. Gewinnt nur der beste Beitrag einen Geldpreis, dann nehmen eher weniger Personen teil, diese investieren jedoch mehr Aufwand in die Beiträge. Nicht immer sind finanzielle Anreize notwendig. Gelungenes Crowdsourcing endet mit konstruktiven und motivierenden Rückmeldungen an die Crowd, damit diese sehen, was mit den Ideen weiter geschieht und sie auch weiterhin motiviert sind, teilzunehmen. Die spezifische Ausgestaltung gilt es jeweils vor dem Einsatz im Detail abzuklären.
Bei der Konsultation der Öffentlichkeit mittels Crowdsourcing werden häufig sehr offene Fragen an die gesamte Bevölkerung gestellt (zum Beispiel: "Welche Ideen haben Sie für die Zukunft der Bildung in Ihrem Kanton?"). Welche Vorteile und Risiken hat Ihrer Meinung nach ein solches Vorgehen?
Bei Ihrem Beispiel handelt es sich um eine eher unspezifische Frage, die an eine breite Crowd adressiert wird. Je unspezifischer die Fragestellung, desto diverser die Vorschläge, die eingehen. Diversität ist gut, da sie zu extrem guten Ideen führen kann - gleichzeitig natürlich aber auch zu extrem schlechten. Eine Schwierigkeit liegt daher in der Beurteilung der diversen und zahlreichen Ideen durch die Auftraggeber. Diese können nur schwer direkt verglichen und nach einheitlichen Kriterien bewertet werden. Dies bedeutet schlussendlich etwas mehr Aufwand für die Auftraggeber. Typischerweise werden bei solchen Fragestellungen mehrere Ideen gleichzeitig prämiert und weiterverfolgt, da es noch keine eindeutigen Sieger gibt in dieser frühen Phase des Innovationsprozesses. Die wahre Qualität der Ideen zeigt sich dann erst später, nach weiteren Präzisierungen der Idee und eingehenderen Evaluationen.
Eine weitere Herausforderung solcher breiten und offenen Fragestellungen ist, dass sich weniger Individuen konkret angesprochen fühlen. Dies reduziert die Grösse der Crowd, was sich schlussendlich negativ auf die Anzahl Beiträge auswirkt. In Ihrem konkreten Beispiel könnte es sich anbieten, die Aufgabenstellung in mehrere konkretere Teilfragen zu unterteilen. Sofern die sinnvolle Beantwortung einer Teilfrage eine gewisse Expertise voraussetzt, sollte die Crowd entsprechend gebildet werden.
Wer sollte Ihrer Meinung nach die Ideen evaluieren? Die Crowd? Die Behörden, welche den Beteiligungsprozess angestossen haben? Oder beide zusammen?
Im öffentlichen Sektor denke ich, dass eine Jury, die sowohl aus Behörden und Bürgern besteht, ideal wäre. Von der Seite der Behörden ist es sinnvoll, dass auch Personen in der Jury sind, die später an der Umsetzung beteiligt sind. Dies vereinfacht die nächsten Schritte in Richtung Umsetzung der Ideen.
Die Bewertung komplett der Crowd zu überlassen ist riskant. Die Crowd ist ja nur eine Teilmenge aller Bürger und vertritt nicht zwingend eine repräsentative Meinung. Weiter wurde kürzlich in einer Studie gezeigt, dass sich die Crowd durchaus auch strategisch verhält. Wer am besten vernetzt ist innerhalb der Crowd, hat auch die höchsten Chancen seine/ihre Ideen nach vorne zu bringen, unabhängig von deren Qualität. Daher ist es sicher besser, die Kontrolle über den Evaluationsprozess, falls möglich, mehrheitlich bei der Jury zu behalten.
Kennen Sie Beispiele von guten "gemischten" Prozessen, also von Prozessen welche sowohl eine online als auch eine offline Komponente aufweisen?
Die meisten Prozesse beinhalten einen online sowie einen offline Teil. Üblicherweise beginnt man offline mit strategischen Überlegungen im Rahmen von internen Workshops und konkret auch mit der Festlegung der eigentlichen Aufgabenstellung für die Crowd. Nach dem Online-Crowdsourcing folgen die Evaluation der Ideen sowie weitere iterative Schritte der Präzisierung von Ideen, der Entwicklung von Prototypen oder detaillierteren Evaluationsverfahren. Diese Schritte können jeweils online oder offline stattfinden. Interessant ist, dass oft auch Personen aus der Crowd dazu eingeladen werden an nachfolgenden offline-Workshops teilzunehmen. Hier findet also ein Transfer von online zu offline statt.
Die Behörden haben oft eine nicht ganz einfache Gleichung zu lösen: Die Meinung aller Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigt zu berücksichtigen und gleichzeitig effektiv und effizient neue Lösungen finden. Welchen generellen Rat würden Sie ihnen dabei geben?
Crowdsourcing setzt genau hier an, es begünstigt das aktive Engagement der Bürgerinnen und Bürger über digitale Kanäle im Rahmen eines strukturierten und transparenten Prozesses. Gerade jüngere Bürgerinnen und Bürger, die in den digitalen Medien stark präsent sind, können so wahrscheinlich noch besser in den politischen Prozess integriert werden. Ich denke daher, der Ansatz könnte durchaus nicht nur für Unternehmen sondern auch für Behörden sinnvoll sein. Die konkrete Anwendung ist natürlich jeweils im Einzelfall zu prüfen.
Prof. Dr. Reto Hofstetter erlangte seinen PhD, MA und BA in Business Administration und Wirtschaft ebenso wie seinen BA in Computer Science an der Universität Bern. Derzeit ist er Professor für Marketing an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Zuvor war er Fakultätsmitglied der Università della Svizzera italiana sowie als Assistenzprofessor an der Universität St. Gallen tätig. Als Teil seiner Recherchen besuchte er die Wharton School sowie die Stanford University. Prof. Dr. Reto Hofstetters derzeitige Recherchen fokussieren auf Digital Consumer Behavior, Crowdsourcing, Kreativität, Selbstdarstellung, - reporting und -darstellung. Seine Forschung wurde in hochrangigen akademischen Zeitschriften, wie dem Journal of Marketing Research, Management Science oder PNAS publiziert und etwa von Harvard Business Review oder Forbes empfohlen.