Es gilt gleichsam für private Unternehmen und die öffentliche Verwaltung: Innovation kann nicht verordnet werden, aber man kann die richtigen Rahmenbedingungen und Anreize schaffen. Unterschiedliche Spielfelder der Innovation erfordern dabei andere Arten von Einflussnahme. In jedem Fall aber muss man auf dem Weg zur institutionalisierten Innovation bereit sein, neue Wege zu gehen.
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Hermann Hill, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer*
1. Vier Spielfelder der Innovation
"Sei spontan!" lautet das Musterbeispiel für eine paradoxe Aufforderung. Wenn etwas auf Aufforderung oder gar Anweisung geschieht, ist es nicht mehr spontan, umgekehrt: Wenn es wirklich spontan erfolgt, liegt keine Anweisung zugrunde. Ist daher die Aufforderung "Sei innovativ, Verwaltung!" überhaupt praktisch umsetzbar, sind doch Innovationen, wenn sie wirklich neu sind, ungeplant und abweichend vom bisherigen Schema?
Ist die Aufforderung "Sei innovativ, Verwaltung!" überhaupt praktisch umsetzbar? Dieser Beitrag gibt dazu einige Anregungen
Das Neue entsteht häufig an den Rändern, ist zuvor allenfalls in Spuren erkennbar und verlangt in der Regel einen anderen, frischen Blick auf die Welt. Wenn man unter Innovation wie David Rogers "jede Veränderung an einem Produkt, einem Dienst oder einem Geschäftsprozess, die einen Wert erbringt" versteht, kann man diese Veränderung, wenn auch indirekt, herbeiführen oder die Chance auf Erfolg beeinflussen? Dieser Beitrag will versuchen, dazu einige Anregungen zu geben und beginnt mit vier Spielfeldern von Innovationsansätzen, die sich teilweise überschneiden bzw. ineinander übergehen.
- Das erste Spielfeld: Innovationen in ganzheitlichen Qualitäts- oder Modernisierungsprogrammen
Dazu werden häufig Kriterienkataloge, Checklisten oder Prozess-Toolkits zur Innovationsfindung angeboten. Ähnlich dem "Business Model Canvas" als inzwischen klassischem Ansatz zur Entwicklung von Geschäftsmodellinnovationen hat beispielsweise die GovLab Academy, ein Action Research Center in USA, ein "GovLab Public Problem Solving Canvas" entwickelt. Solche Canvases (Leinwände) dienen dazu, ein Vorhaben zu visualisieren und durch Vortasten mit vorläufigen und rekombinierbaren Maßnahmen zur Umsetzung zu bringen.
Sie zeigen zudem: Nicht nur die Konzentration auf die Kernpunkte bringt die Innovationsfindung voran. Durch Vernetzung und Rekombination werden Elemente des Systems Thinking sichtbar, das über Vervollständigung hinausgeht und vor allem aus Zusammenhängen und Wechselwirkungen Hinweise für innovative Weiterentwicklungen zieht.
- Das zweite Spielfeld: Innovationen aus Problembearbeitungen
Dabei geht es um Abweichungen (Fehler) oder Störungen und Ärgernisse, deren Behebung oder Lösung man immer schon mal angehen wollte, bei denen der Antrieb zur Innovationsfindung also durch konkrete oder allgemeine Unzufriedenheit entsteht. Zu diesem Spielfeld gehören auch Konflikte, Spannungen oder Paradoxien bis hin zur Ratlosigkeit, die produktive Unruhe erzeugt.
- Das dritte Spielfeld: Paradoxe Innovationen aus allgemeiner Zufriedenheit und nicht hinterfragten Routinen
"Wir haben das schon immer so gemacht und es läuft doch, warum sollen wir es ändern?" Hier bedarf es zumeist einer Bedrohung, etwa durch einen neuen Wettbewerber (z.B. ein Start-up) oder zumindest einer Kritik, zumeist von außen, die Zweifel auslöst bzw. Druck erzeugt, darüber nachzudenken, ob die vertraute Normalität auch in der Zukunft noch trägt. Pro-aktiv solche Veränderungen in Gang zu setzen, etwa durch gezielte Störung oder Infragestellung von Routinen, geschieht gerade in großen, erfolgreichen Organisationen noch viel zu wenig.
- Das vierte und schwierigste Spielfeld: Blinde Flecken
Das sind Fälle, in denen man sich gar nicht vorstellen kann, dass es auch anders oder besser gehen könnte. Manche Organisationen versuchen, diesen Bereich durch Visionen, Utopien, Imaginationen zu erkunden oder durch Vielfalt und Wechsel der Methoden und Perspektiven anzugehen. Bewusste Regelbrüche, Experimente und Simulationen, die Veränderung der Voreinstellungen und Handlungsgrundlagen sowie die Herbeiführung von Überraschungen sollen dabei helfen; auch die Nutzung der Parallelwelten oder von Wachträumen durch Entspannung und Abstand kann ein Hebel sein, solche "Unknown Unknowns" (Donald Rumsfeld) zu entdecken.
2. Innovation schützt vor Disruption - auch bei Staat und Verwaltung
Warum reden alle von Innovation? Warum werden alle diese Spielfelder analysiert und bespielt? Ist das nur eine neue Management-Mode oder sind Organisationen und Gesellschaften wirklich herausgefordert, Neues zu tun? Für letzteres sprechen ein verändertes Umfeld, neue Entwicklungen und vor allem als Treiber die Digitalisierung. Der weltweite Wettbewerb bringt neue Wettbewerber hervor, die Geschwindigkeit der Veränderung und die Gleichzeitigkeit der Entwicklungen, die durch Echtzeit-Monitoring und -Rückkopplung für alle transparent wird, steigen rapide.
Organisationen und Gesellschaften sind wirklich herausgefordert, Neues zu tun - dafür sprechen ein verändertes Umfeld, neue Entwicklungen und vor allem als Treiber die Digitalisierung
Gelten diese Szenarien auch für Staat und Verwaltung? Ist auch hier eine Auflösung traditioneller Geschäftsfelder oder eine "feindliche Übernahme" denkbar? Und sind auch hier Innovationen dringend erforderlich, um vor solchen Disruptionen zu schützen? Die Frage muss gestellt werden, sind doch gerade Berechenbarkeit und Kontinuität Kennzeichen einer rechtsstaatlichen Verwaltung.
Disruptive Entwicklungen, die bestehende Aufgaben und Geschäftsmodelle in Frage stellen, bestehen indes auch für Verwaltungen.
- Zu denken ist etwa an die Möglichkeiten und Folgen künstlicher Intelligenz. Die Frage ist, ob Arbeitsplätze überflüssig werden oder Tätigkeiten entfallen oder sich zumindest stark ändern werden, wenn Maschinen sowohl für interne Büroaufgaben als auch für den Kontakt mit dem Bürger intensiver eingesetzt werden bzw. umgekehrt welche neuen Arbeitsplätze und Tätigkeiten entstehen werden.
- Verschiedene Wahlkämpfe und Kampagnen haben gezeigt, dass die Auswertung und Nutzung der Daten durch private Unternehmen weiter fortgeschritten ist als bei Verwaltungen.
- Neue Technologien, wie etwa die Blockchain-Technologie, machen zudem viele Intermediäre, etwa auch staatliche Register oder Genehmigungsbehörden, überflüssig, wenn smarte Rechner unmittelbar miteinander Verträge abschließen und deren Durchführung überwachen.
3. Weichenstellungen für Innovationen: “Serendipity” schaffen
Es liegt also im Interesse von Gesellschaften und Organisationen, dass Innovationen geschehen. Das Thema Innovation gewinnt deshalb auch in der internationalen Verwaltungswissenschaft zunehmend Aufmerksamkeit, InnovationLabs/GovLabs schießen in der Praxis aus dem Boden. Schon vor rund 10 Jahren schrieb die kanadische Vewaltungswissenschaftlerin Jocelyne Bourgon im Hinblick auf die Menschen im öffentlichen Dienst: "They innovate because of a public service ethos. Innovation stems from the desire to serve."
They innovate because of a public service ethos. Innovation stems from the desire to serve
Jocelyne Bourgon
Das gibt Hoffnung, dass die öffentliche Verwaltung entgegen manchen Befürchtungen doch in der Lage ist, neuen Herausforderungen zu begegnen und die Transformation ins digitale Zeitalter voranzutreiben. Doch welche Faktoren können dabei als Unterstützung und Förderung dienen?
Im allgemeinen Management wird zunehmend erkannt, dass direkte Anordnungen und Interventionen nur begrenzte Wirkung entfalten. Für indirekte Anreize zur Verhaltensänderung (Nudges) wird die gleiche Kritik vorgebracht. Erst recht gilt dies, wie oben dargestellt, für Innovationen, die in ihrer konkreten Gestalt vom Anweisenden so gar nicht vorhersehbar und planbar sind.
Insofern ist nach (äußeren) Weichenstellungen und (inneren) Impulsen zu suchen, die indirekt Innovationen anbahnen und befördern können, also einen Raum und ein Klima zu schaffen, in dem glückliche Zufälle entstehen können, die "Serendipity" genannt werden. So heißt es etwa in der Fachliteratur, ganz im Gegensatz zu Glück und Zufall könne Serendipity durchaus bewusst gefördert werden kann.
4. "Serendipity Accelerators": Fünf Handlungsfelder für mehr Innovation
Um Serendipity zu fördern, gibt es verschiedene Handlungsfelder, wo die Katalysatoren für Innovation verborgen liegen können:
- Raum: Es gibt spiegelbildliche Wechselwirkungen der äußeren Raumgestaltung mit inneren Kreativitätsprozessen. Eine flexible Möblierung, (Vor-)Bilder an der Wand, die Einbeziehung des Denkens im Körper (Embodiment), etwa durch Änderung der Sitzordnung, „Steh-Ordnungen“, Spaziergänge bis hin zu einem Wechsel des Raums können innovationsfördernde Wirkung entfalten.
- Team: Die Zusammensetzung der Gruppe sowie die Dynamik der Interaktion in der Gruppe stellen ebenfalls Faktoren für eine gelingende Innovation dar. Dabei sind vor allem auch sog. soziale Heuristiken zu beachten. Dazu werden etwa Reziprozität, Commitment und Konsistenz, soziale Bewährtheit, Sympathie, Autorität und Knappheit gezählt.
- Methoden und Prozesse: Neben bekannten Kreativitätstechniken sind inzwischen auch viele Methoden für Agilität, Start-up-Denken, (Geschäftsmodell-)Innovationen, digitale Transformation, etc. entwickelt worden, angefangen von kollektiver Achtsamkeit, über flexible Organisationen und Verfahren bis hin zu spezifischen Ansätzen einer innovationsförderlichen Führung und Ermächtigung.
- Kompetenzen: Einen weiteren Faktor stellen die Skills, Kompetenzen und Mindsets (Einstellungen) der beteiligten Personen dar. Dazu zählen etwa: Einen gemeinsamen Sinn (Purpose, Challenge) entwickeln, den Blick für die Erfassung der Situation und von Entwicklungsmöglichkeiten schulen („das Spiel lesen“), die Interessen der Akteure (Prioritäten, Schmerzgrenzen) verstehen und eventuelle Kooperationsmöglichkeiten ausloten, Verfügbarkeit von Ressourcen, leistbare Verzichte, Einflüsse von außen und Wirkungen möglicher Ergebnisse erkennen sowie die Fähigkeit, pragmatisch einfache und sichtbare Schritte einzuleiten, diese zu überprüfen und gegebenenfalls später zu skalieren.
- Selbstvertrauen: Ganz wichtig für die Entstehung von Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist eine psychologische Sicherheit, vermittelt durch das soziale und berufliche Umfeld. Neben dem Vertrauen in die eigenen Stärken spielt auch die Verlässlichkeit der beteiligten anderen Personen eine wichtige Rolle bei dem Versuch, einen Aufbruch und eine Reise ins Ungewisse zu unternehmen. Dazu gehören vor allem die Führungskräfte, aber auch die anderen Mitstreiter im Team.
5. "Serendipity": Immer kollaborativ, immer im lokalen Umfeld verankert
Der Mehrwert von Serendipity für Innovationsprozesse in der Verwaltung entsteht dabei erst aus der Kombination verschiedener Elemente, Ansätze und Personen, die allein keine oder eine viel geringere Wirkung erzielt hätten. Aus der Regionalentwicklung ist bekannt, dass die räumliche Nähe und die Dichte und Häufigkeit der Begegnungen einen begünstigenden Faktor für die Entstehung von Innovationen darstellt. Andererseits darf der Fokus bei der Suche nach Schnittstellen und Kreuzungslinien nicht nur auf die eigene Sphäre beschränkt bleiben, vielmehr sind die Offenheit für und die Auseinandersetzung mit anderen Lösungen ebenso wesentlich.
Allerdings wird die klassische Variante, nach best-practice-Lösungen zu suchen und diese im Rahmen eines Benchmarkings zu übertragen, immer mehr in Frage gestellt, da jeder Innovationskontext wieder anders ist und spezifischen Erfolgsbedingungen unterliegt. Eine standardisierte oder imitierte Lösung ist eben in der Regel nicht innovativ, vielmehr muss eine eigene, neue „Ordnung“ gesucht werden.
Eine standardisierte oder imitierte Lösung ist in der Regel nicht innovativ. Vielmehr muss eine eigene, neue „Ordnung“ gesucht werden
Indessen können Kooperationen, auch Wettbewerbe, hilfreich sein, um den Denk- und Assoziationsraum zu erweitern, neue Anregungen zu erhalten und eine Vielfalt möglicher Lösungen in Betracht zu ziehen. Wenn man nur dort sucht, wohin der Lichtkegel fällt, wie bei dem Beispiel mit dem verlorenen Schlüssel, sind glückliche Zufälle eben von vorneherein sehr eingegrenzt.
Um den Möglichkeitsraum zu erweitern, sind zudem Experimente hilfreich, da sie zeigen, welche Wirkungen eintreten und man anschließend daraus in einem agilen Verfahren weitere Lernschritte folgen lassen kann. Auch wenn ein oder mehrere Versuche schief gehen, wird dies im Hinblick auf einen ganzheitlichen Lernprozess häufig als „Kluges Scheitern“ oder „Produktives Scheitern“ für wichtig gehalten.
Angesichts der bekannten und bewährten Weichenstellungen und Impulsen ist es Zeit, dass den Worten Taten folgen: Sei innovativ, Verwaltung!
Prof. Dr. Hermann Hill ist Inhaber des Lehrstuhls für Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Er ist Wissenschaftlicher Leiter des Führungskollegs Speyer und Träger des Verdienstkreuzes 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Er ist seit 2007 Leiter der Wissenschaftlichen Dokumentations- und Transferstelle für Verwaltungsmodernisierung in den Ländern (WiDuT) beim Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, Mitinitiator der Speyerer Qualitätswettbewerbe und des European Public Sector Award (EPSA) sowie Veranstalter der jährlichen Tagungen zur Verwaltungsmodernisierung und der Speyerer Zukunftsgespräche. In vielen Publikationen und Vorträgen setzt er sich für die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung ein.
*Der Gastbeitrag basiert auf dem Artikel "Sei innovativ, Verwaltung" (2018, Speyerer Arbeitsheft Nr. 230) und wird vom staatslabor hier in einer exklusiven, gekürzten Version publiziert. Originalverweise und Quellen sind in der originalen Langversion ersichtlich. Photo credits: Paul on Unsplash.