Während der Krise hat sich für Esther Girsberger besonders der Wert guter Beziehungen gezeigt. Sie hofft, dass die Schweiz so rasch wie möglich zur Normalität zurückkehren kann, und dass sich der neu aufgekommene Solidaritätsgedanke noch lange halten möge.
Esther Girsberger ist Publizistin, ehemalige Chefredaktorin des Tages-Anzeigers und Inhaberin einer Agentur zur Vermittlung von Persönlichkeiten und Inhalten. Seit dem 1. April 2020 ist sie Co-Leiterin der Ombudsstelle SRG Deutschschweiz.
Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Medien
Der strukturelle Wandel wird noch schneller vorangetrieben.
Welche Folgen der Corona-Krise stellen Sie als Ombudsfrau für die SRG fest?
Was die Beanstandungen bei der SRG angeht, habe ich seit meiner Amtsübernahme am 1. April einen Wandel in der Gesellschaft festgestellt. Am Anfang kamen einige Einsendungen rein, die beanstandeten, wie es sich die SRG anmassen könnte, die Behörden zu kritisieren. In der zweiten Phase wurden die Fachexperten kritisiert und die Frage aufgeworfen, wer die Deutungshoheit innehaben sollte. Jetzt, in der dritten Phase, kommt die Kritik verstärkt auf, man müsse behördliche Anweisungen stärker hinterfragen. In dieser Phase der Lockerung kommen auch wieder vermehrt persönliche Haltungen zum Vorschein, zum Beispiel Stimmen, die eine komplette Öffnung fordern. Das ist sehr spannend.
Was wir feststellen: Die Sendungen der SRG werden so stark beachtet, wie wohl seit Jahrzehnten nicht mehr!
Das Medieninteresse ist jetzt zwar hoch, aber wirtschaftlich gesehen leiden im Moment viele Medientitel und -konzerne unter der Corona-Krise: Viele Verlagshäuser haben Kurzarbeit beantragt. Wie verändert die Corona-Krise die Medien?
Ich befürchte, dass diese zurzeit unglaublich hohe Beachtung der Medien wieder stark zurückgehen wird, und zwar ab dem Moment, an dem sich wieder eine gewisse Normalität einstellt und nicht mehr so viel über Corona berichtet wird wie jetzt. Ich gehe davon aus, dass sich der Medienkonsum auf einem ähnlichen Niveau wie vor der Krise einpendeln wird.
Denken Sie, an der Zahlungsbereitschaft der Medienkonsumierenden wird sich etwas ändern? Jetzt, wo sich vielleicht doch einige Personen ein Abonnement gönnen, weil man gemerkt hat, dass man ohne Qualitätsmedien nicht auskommt.
Leider glaube ich nicht so ganz daran. Das Inserategeschäft wird sich etwas erholen, aber auf tiefem Niveau. Die Werbeeinnahmen der Medien werden tendenziell weiter zurückgehen. Dass gerade jetzt beispielsweise die NZZ sagt, sie könne die Krise nicht ohne Entlassungen überstehen, ist meiner Meinung nach nur eine Ausrede, um die ohnehin anstehenden strukturellen Veränderungen schneller voranzutreiben.
Wirtschaftliche Folgen von Corona
Ich mache mir sehr grosse Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die ausserordentliche Lage?
Mich beunruhigt die wirtschaftliche Entwicklung sehr. Das hat einerseits mit meiner eigenen Firma zu tun, andererseits mache ich mir für die Schweizer wie auch für die globale Wirtschaft allgemein Sorgen. Es handelt sich um eine enorm grosse globale Krise. Sie betrifft alle Länder.
Wie schätzen Sie die bisherigen wirtschaftspolitischen Antworten des Bundesrates ein?
Ich finde die Kurzarbeit – für Angestellte und unter gewissen Bedingungen für Selbständige – absolut richtig. Wie wir in der Schweiz mit diesen Krediten umgehen, ist einmalig. Wir werden von der ganzen Welt darum beneidet – auch, weil die Hilfe so schnell und unkompliziert gehandhabt wurde. Aber man muss nun vorsichtig sein und nicht erwarten, dass das so weitergeht. Es war eine Soforthilfe. Jetzt sollte man Lockerungen vornehmen, damit die Wirtschaft wieder zum Alltag zurückkehren kann, und man sollte vorsichtig sein mit weiteren staatlichen Hilfen.
Jetzt hat sich gezeigt, was für einen Wert die Demokratie hat.
Wie könnte diese Rückkehr zum Alltag konkret aussehen?
Selbstverantwortung ist mir sehr wichtig. Man hätte beispielsweise der Gastronomie schon in der ersten Lockerungsperiode selber die Verantwortung übergeben müssen, ob sie die Betriebe unter Einhaltung der Schutzmassnahmen wieder öffnen wollen oder ob es sich für sie wirtschaftlich nicht lohnt.Auch am Arbeitsplatz gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Schutzmassnahmen einzuhalten, die Lockerung hätte also nach Abklingen der Infektionswelle schneller erfolgen können. Generell bin ich der Meinung, dass man den Normalbetrieb rasch wieder ermöglichen muss.
Wecker oder Ausschlafen? Ich bin eine Frühaufsteherin und brauche keinen Wecker.
Einkaufen lassen oder selbst einkaufen? Mein Mann macht am Samstag den Grosseinkauf, ich kaufe den Rest während der Woche ein. Gerade jetzt berücksichtigen wir die Quartierläden sehr stark.
Erhöhter oder reduzierter Medienkonsum? Eindeutig erhöhter Medienkonsum. Das hat auch mit meiner neuen Funktion als Co-Leiterin der Ombudsstelle SRG Deutschschweiz zu tun. Man schaut sich alle beanstandeten Sendungen an, sowie die Vergleichsmedien.
Twitter oder kein Twitter? Ich nutze Twitter passiv und schaue mir an, was getwittert wird. Nun aber sicher mehr als vor der Krise.
Video-Call oder Telefon? Wenn es um Berufliches geht und sich mehrere Personen einklinken, dann Video-Call. Ansonsten eindeutig “klassisches Telefon”. Video-Calls finde ich vorgetäuschtes Socializing.
Netflix oder Tolstoi? Morgens lese ich gerne, nicht nur beruflich bedingte Lektüre. Aber «Krieg und Frieden» zur Unterhaltung? Tolstoi braucht Zeit. Abends bin ich als Frühaufsteherin meist zu müde für anspruchsvolle Lektüre, da schaue ich gerne Netflix. Empfehlungen: Unorthodox, Fauda und Ozark.
Fünf-Gänger oder Dosen-Ravioli? Wir haben zwei Teenager zu Hause und die sind grosse Sportler, das heisst, ein 5-Gänger würde zu lange dauern und wahrscheinlich zu wenig Kalorienzufuhr mit sich bringen. Deshalb lieber zwei Gänge, dafür nahrhaft und gesund.
Home-Fitness oder Spaziergang im Wald? Während der Lockdown-Phase machte ich zwei Mal pro Woche über Zoom Power Pilates. Jetzt wieder regulär. Zudem gehe ich oft joggen.
Langfristige Implikationen der Corona-Krise für Politik und Gesellschaft
Ich hoffe, dass wir den Solidaritätsgedanken in die Zeit nach der Krise mittragen können.
Was ist jetzt gesellschaftlich wichtig, um mit dieser Ausnahmesituation klar zu kommen?
Es hört sich vielleicht etwas pathetisch an, aber ich hoffe, dass man den Solidaritätsgedanken auch in die Zeit nach der Krise rettet und dass wir nicht zum individualistischen, selbstbezogenen Verhalten zurückkehren.
Wie blicken Sie auf die Politik, die Demokratie und den Zustand der demokratischen Institutionen, gerade, was das Zusammenspiel von Bundesrat und Parlament angeht?
Gerade das durch die Exekutive verhängte Notrecht hat gezeigt, welchen Wert die Demokratie hat. Natürlich kann man sich nicht gegen dieses Notrecht, das faktisch die Demokratie ausser Kraft gesetzt hat, auflehnen. Jetzt ist es höchste Zeit, dass sich das Parlament wieder einbringen kann. Vor der Krise wurde die Arbeit des Parlaments von vielen als selbstverständlich angeschaut und zu wenig beachtet. . Hoffentlich hat die Krise einen positiven Effekt etwa auf die Stimmbeteiligung.
Wie sollten sich politische Akteure verhalten, um möglichst konstruktiv mit der Krise umzugehen?
Wichtig ist, nicht in das selbstbezogene Verhalten zurückzufallen - das sollte auch für politische Parteien gelten. Natürlich ist es naheliegend, dass sich Parteien in Zeiten, in denen es der Schweiz gut geht, kräftig aufs Dach geben. Für die nächsten Jahre, die schwierig werden, wäre dieses Verhalten destruktiv. Wenn ich gewisse PolitikerInnen höre, die sagen: «Was schon vor der Krise nötig war, ist jetzt erst recht notwendig», beunruhigt mich diese Einstellung...
Erfahrungen mit Krisensituationen
Ich führe Tagebuch. Schon nur die Gedanken zu Papier zu bringen, hilft.
Was für Krisen haben Sie in Ihrem Berufsleben bereits erlebt?
Ehrlich gesagt trifft mich die momentane Krise mit meiner Firma «speakers.ch» stark. Innerhalb von zehn Tagen ist praktisch das gesamte Geschäft weggebrochen, das ich in sechseinhalb Jahren sehr erfolgreich entwickelt habe. Die jetzige Krise für meine Firma ist meine grösste berufliche Krise.
Ab wann wurde Ihnen klar, dass Corona für Ihre Firma und Ihre Tätigkeit zu einem existenziellen Problem werden könnte?
Am 28. Februar, als die ersten Annullationen von Anlässen reinkamen. Da wusste ich: Das wird schlimm. Als der Bundesrat dann am 13. März gesagt hat: «Wir müssen schliessen», da wusste ich: Jetzt wird es desaströs.
Zum Glück war ich schon immer eine vorsichtige Unternehmerin.
Wie sind Sie damit umgegangen? Wie rasch sind Sie zum Notfallbetrieb übergegangen?
Sehr rasch. Von Ende Februar bis heute war speakers.ch bei rund 180 Veranstaltungen involviert. Die mussten abgesagt oder verschoben werden. Ich habe versucht, mit den Kunden Ausfallhonorare für Referierende und Moderierende und Aufwandshonorare auszuhandeln. Das hat mir gezeigt, wie wertvoll gute Beziehungen sind, weil man miteinander reden kann. Das alles zu reorganisieren gab sehr viel zu tun – für wenig Geld.
Was hat Ihnen persönlich geholfen, um in dieser schwierigen Situation einen kühlen Kopf zu bewahren?
Erstens, mein finanzielles Polster, da ich eine vorsichtige Unternehmerin bin. Zweitens, und das tönt banal, das Wissen, dass diese Situation völlig unverschuldet entstanden ist. Drittens, das persönliche Umfeld. Dazu gehören auch unsere beiden Teenager, die mindestens bis zum 8. Juni Homeschooling haben. Diese zusätzliche Zeit, die manfüreinander hat, und die guten Diskussionen mit meinem Umfeld, haben mir sehr geholfen.
Nutzen Sie gewisse Methoden für die Entscheidungsfindung in besonders schwierigen Situationen?
Ich führe ein Tagebuch zu dem, was mich gerade umtreibt – persönlich sowie geschäftlich. Schon nur die Gedanken, was in einem abgeht, zu Papier zu bringen, hilft. Es ordnet und zeigt einem schwarz auf weiss, worauf man besonderen Wert legt. Man sieht zum Beispiel, was ein ganzes A4-Papier füllt, und was nur drei Zeilen benötigt. Da merkt man, wo die Wertungen liegen.
Zum Schluss: Was wird für Sie persönlich nach der Krise nachhaltig anders sein als zuvor?
Jetzt, wo ich – so wie alle – eine mehr oder weniger leere Agenda habe, muss ich sagen: Das sind eigentlich herrliche Zustände! Nicht nur, was das Geschäftliche angeht. Natürlich freue ich mich auch, wenn ich wieder an ein Konzert oder ins Theater gehen und Freunde treffen kann, aber dieses permanente zugekleistert-Sein, werde ich nicht mehr machen. Ich möchte meine “Vor-Corona-Aktivitäten” erheblich reduzieren.
Und worauf freuen Sie sich am meisten, wenn diese Ausnahmesituation ein Ende gefunden hat?
Ich möchte frei entscheiden können, das zu machen, worauf ich Lust habe – ohne überlegen zu müssen, unter welchen Umständen dies möglich ist.