“Wir dürfen nicht nachlassen, sobald das Risiko etwas weniger gross eingeschätzt wird.”

Flyer La Quarantaine mit alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann

Der ehemalige Bundesrat Johann Schneider-Ammann plädiert für Weitsicht, Respekt und Dialog im Umgang mit Corona und sorgt sich besonders um das langfristige Überleben der mittelständischen Unternehmen.


 

Johann Schneider-Ammann stand von 2010 bis 2018 dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung vor. Zuvor sass er für die FDP im Nationalrat, war Präsident von Swissmem und über Jahrzehnte in der Leitung der Ammann-Group



Politischer Umgang mit Corona


Man muss jetzt alle unterstützen, die versuchen, die Pandemie im Keim zu ersticken.


Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Pandemie?

Es ist eine hoffentlich einmalige Globalkatastrophe. Die zweite Welle kommt mit einer hohen Wahrscheinlichkeit. Diese wird eine höhere Amplitude haben. Wenn die Weltgemeinschaft die Pandemie jetzt nicht in den Griff kriegt, wird es katastrophal. Deshalb muss man jetzt alle unterstützen, die versuchen, Einfluss zu nehmen, damit sie im Keim erstickt wird.
Wie wichtig es ist, Pandemien früh unter Kontrolle zu bringen, weiss ich spätestens seit der Maul- und Klauenseuche in den 60er Jahren. Ich kann mich gut erinnern, wie damals Bänder und Schleusen um die Bauernhöfe gelegt wurden. Die Bauern, die Tierärzte, die Talschaft und der Kanton hatten wahnsinnig Angst, dass die Krankheit nicht unter Kontrolle gebracht werden könne. Sobald es über den ersten Hof hinausging und einen zweiten Hof betraf, wurde es zu einem Flächenbrand. Heute ist es ja ein bisschen ähnlich.  

Welche Entwicklungen verfolgen Sie zur Zeit mit besonderem Augenmerk?

Mich interessiert insbesondere, wie andere Länder mit Corona umgehen. Unterschiedliche Methoden führen zwischenzeitlich zu unterschiedlichen Ergebnissen, letztlich hoffentlich zum Schlussresultat, dass man die Epidemie wieder unter Kontrolle bekommt. Ein süffiger Satz des amerikanischen Präsidenten ist leider noch keine Lösung. 


Die Schweiz hat ihre Sache gut gemacht.

Wie beurteilen Sie den politischen Umgang mit der Krise?

Die Schweiz hat ihre Sache gut gemacht. Ich kann mir keine Beurteilung des Bundesrats anmassen, aber was ich besonders gut fand, war die Kommunikation. An den Pressekonferenzen sprach zuerst die Präsidentin, dann der Vizepräsident, mit den Spezialisten und Fachpersonen in der ersten Reihe. Dann liessen sie ganz bewusst Vertreter des Zivilschutzes auftreten, dann diejenigen des Militärs. Alle Lager kamen zum Zug. Das gab ein Gesamtbild, welches überzeugte. 


Gibt es bestimmte politische Entwicklungen, die Bedenken ausgelöst haben?

Dass ich nach der Sondersession in der Zeitung lesen musste, dass etliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier nach der Sitzung zusammen ein Bier trinken gegangen sind. In einer Krisensituation wird man genau beobachtet und beurteilt. Da darf man keine Regeln missachten. Das hinterlässt im Volk den Eindruck, dass man die Krise nicht ernst nimmt, dabei ist es gerade für Führungsfiguren wichtig, ernsthaft und solide zu handeln. 


Es ist nie jemand an einer besonders schwierigen Schlüsselstelle am Berg in den Tod gestürzt. Das passiert immer kurz vorher oder kurz danach.


Was ist nun politisch besonders wichtig?

Dranzubleiben und nicht nachzulassen, sobald das Risiko etwas weniger gross eingeschätzt wird. Das ist wie beim Bergsteigen, was ich in jungen Jahren intensiv gemacht habe: Es ist nie jemand an einer besonders schwierigen Schlüsselstelle am Berg in den Tod gestürzt, das passiert immer kurz vorher oder kurz danach. An der Schlüsselstelle ist man immer völlig konzentriert und fokussiert und überlegt sich jeden Zentimeter. Danach aber atmet man aus, geniesst das Panorama – und steckt auf einmal in einem Schlamassel. Deshalb würde ich der Regierung empfehlen, Corona zu einem Dauerthema zu machen und in jeder Sitzung – egal, ob etwas vorgefallen ist oder nicht – zu diskutieren. Auch die Medien sollten an diesem Thema dranbleiben. 

 


Wecker oder Ausschlafen? Ich brauche leider keinen Wecker. Ich stehe in der Regel um vier Uhr morgens auf. Ausschlafen kenne ich nicht, auch nicht am Wochenende.


Selber einkaufen oder einkaufen lassen? Meine Frau kauft alles für mich ein. Selbst kaufe ich seit Jahren nicht mehr ein. Ausser ich brauche einen neuen Anzug. Als Bundesrat hab ich jeweils 15 Minuten gebraucht, um drei neue Anzüge zu kaufen.


Erhöhter oder reduzierter Medienkonsum? Ich höre intensiver Radio und schaue mehr Fernsehen. Vor allem, um zu sehen, wie andere Länder mit ihrer Corona-Situation umgehen.


Video-Call oder Telefon? Für mich sind Video-Calls daily business, wir machen das schon seit vielen Jahren und ist für mich nichts Ausserordentliches. Vielleicht wird jetzt die Verwaltung etwas digitaler und zeitgemässer. Dann wäre das ja ein guter Effekt der ganzen Geschichte. 


Kontakt halten zur Familie? Mit meinen Enkeln, die unweit von mir wohnen, haben wir es so gehandhabt, wie es früher der russische Geheimdienst gemacht hat: Ich legte etwas in ihren Briefkasten, klatsche zwei Mal in die Hände, und nach einer Minute, wenn ich wieder weg war, kamen die Enkel angerannt, um den Briefkasten zu leeren. 


Konkrete Folgen der Corona-Krise für die Wirtschaft


Ich mache mir grosse Sorgen um den Mittelstand.


Wie wird die aktuelle Krise die Wirtschaft verändern?

Ich weiss es nicht oder möchte es nicht wissen. Ich mache mir aber grosse Sorgen um den Mittelstand. Der Mittelstand ist das Rückgrat unseres Wohlstandes, unserer Innovationsfähigkeit, unseres Innovationspotenzials – auch des Zukünftigen. Es sind nicht die grossen Player, die neue Lösungen bringen. Sie übernehmen und kommerzialisieren oder industrialisieren Lösungen, die in den mittelgrossen und kleineren Firmen entwickelt worden sind. Dort steckt das Brain. 


Wie schätzen Sie die Folgen der Corona-Krise für kleine und mittelgrosse Firmen ein?

Kurzarbeitsentschädigung kann helfen, wenn man das Licht am Ende des Tunnels sieht, sprich wenn man weiss, dass man eine temporäre Auftragslücke hat, und dank der Kurzarbeitsentschädigung keine Menschen entlassen muss. Doch der jetzige Tunnel scheint endlos lange zu sein und wir haben noch keine Gewissheit, was auf uns zukommt. Ich mache mir grosse Sorgen um das Überleben der Mittelstandsfirmen, da ihnen trotz der Bundeshilfe plötzlich das Geld ausgehen könnte. Deshalb ist es jetzt wichtig, sich um den Mittelstand zu kümmern.


Für mich ist die Sozialpartnerschaft das A und O einer erfolgreichen Unternehmensführung.


Was würden Sie einer Unternehmensleitung empfehlen, um mit dieser Krise umzugehen?

Man kann als Unternehmer nicht immer Hilfe von den Banken oder der Politik erwarten. Die Unternehmerschaft möchte kein Almosenempfänger sein. Als Unternehmer möchte man aber auch möglichst wenig Einmischung von aussen. Mir war es im Gegenzug immer wichtig, den Dialog zu suchen und die Sozialpartnerschaft zu pflegen. Für mich ist dies das A und O einer erfolgreichen und nachhaltigen Unternehmensführung. Wenn die Belegschaft das Vertrauen in die Unternehmensleitung nicht hat, dann arbeitet sie für den Lohn. Wenn die Belegschaft Vertrauen in die Unternehmensleitung hat, dann arbeitet sie auch aus Stolz für das Unternehmen. Dann würde niemand auf die Idee kommen, zu denken, es sei eine schlechte Bude, wenn es dem Unternehmen mal temporär schlecht geht.

 

Umgang mit Krisensituationen


Ich habe einen runden Tisch gemacht und alle Forderungen angehört.


Welche wirtschaftlichen Ausnahmesituationen haben Sie selbst erlebt?

Den Frankenschock, zum Beispiel. Die kontinuierliche Aufwertung des Schweizer Frankens gegenüber dem Euro war schon in die 2000er ein Thema als ich noch Präsident der Swissmem war. 2009 stand der Schweizer Franken zum Euro noch bei 1.61 – dann fiel er auf 1.47. Ich erinnere mich, wie ich damals im Auftrag der Industrie zum Bundesrat ging und mit Doris Leuthard diskutierte, die damals Vorsteherin des Volkswirtschaftsdepartements war. Sie hörte geduldig zu und sagte mir dann, Währungspolitik liege in der Verantwortung der Nationalbank. Einige Jahre später sass ich im selben Sessel und die Szene wiederholte sich: Die Swissmem kam zu mir und sagte, dass sie mit einem Kurs von CHF 1.47 pro Euro hatte leben könnten, aber dass es mit 1.20 kritisch würde. Ich wiederholte, was Frau Leuthard mir damals gesagt hatte. In jener Zeit konnte man sich nicht vorstellen, in wenigen Tagen 57 Milliarden locker zu machen und auf diesem Weg die Wirtschaft zu retten.


Man darf nicht ängstlich sein. Es braucht aber Respekt vor dem, was man tut.


Wie gingen Sie als Wirtschaftsminister mit den Forderungen von allen Seiten im Januar 2015 zurecht, als der Franken nach Aufgabe des Mindestkurses von CHF 1.20 pro Euro durch die Nationalbank auf unter einen Euro fiel?

Ich habe regelmässige runde Tische durchgeführt mit grösseren und kleineren Gewerkschaften – sowohl mit den Arbeitgeberspitzen als auch mit Vertretern der Arbeitnehmerseite. Aber auch mit Vertretern aus dem Tourismus, der Exportwirtschaft und weiteren Bereichen. Ich habe ihnen gut zugehört und ihre Forderungen entgegengenommen und womöglich in unsere Arbeiten integriert. Ich musste ihnen aber auch klaren Wein eingeschenken und mitteilen, dass sie nicht mit Subventionen rechnen können, sondern dass sie Kostenmanagement betreiben müssen. Als Unternehmer muss man sich immer bewusst sein, dass es Unerwartetes und Unerfreuliches gibt und damit muss man leben wollen und nicht erschrecken, wenn es eintritt. 


Wie haben Sie konkret Austausch mit anderen Akteuren gesucht - etwa mit Arbeitnehmern?

Ich habe mich während meiner Zeit als Nationalrat und Swissmem-Vorsteher zum Beispiel mit einem prominenten Gewerkschaftsführer getroffen. In Bern im Restaurant Harmonie – immer am gleichen Tisch, in den gleichen Sesseln, am gleichen Tag zur gleichen Zeit. Dort haben wir uns mehr oder weniger alles gesagt. Ich wusste von ihm, wo es drückt; er wusste von mir, was wir in petto hatten. Das gab uns gegenseitig Vertrauen, und mit diesem Vertrauen haben wir es geschafft, dass es in diesem Land, was die Industrie anbelangt, im Schnitt nur einen Streiktag pro Jahr gab – während die Franzosen zur gleichen Zeit 40 Streiktage hatten. Wenn Sie einem Kunden aus dem Fernen Osten sagen, dass es in der Schweiz etwas teurer ist, man die Produkte aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit pünktlich erhalten wird, während man in anderen Ländern mitunter 40 Tage dazu kalkulieren müsse, dann waren diese froh, das zu wissen.


Worauf muss man als Führungsperson in einer Krise achten?

Man muss handeln, man kann nicht lange "fäderläsis" machen. Man darf nicht ängstlich sein. Wenn man ängstlich ist, kann man keine Firma führen oder in einer Exekutive tätig sein. Es braucht aber auch Respekt vor dem, was man tut, sowie vor dem, was auf einen und die Mitarbeitenden zukommen kann. Diesen Respekt muss man sich zur Tugend machen.