2006 wurde in Deutschland per Kabinettsbeschluss das “Programm Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung” eingeführt. Seit 2011 ist in der Begründung eines neuen Gesetzesentwurfs unter anderem auch der erwartete Erfüllungsaufwand für Bürger/innen, die Wirtschaft und die Verwaltung zu erläutern - keine einfache Aufgabe. Im Gespräch mit dem staatslabor geht Stephan Naundorf vom Referat für bessere Rechtsetzung im deutschen Bundeskanzleramt auf Spannungsfelder und aktuelle Entwicklungen ein und diskutiert die Wichtigkeit von partizipativen Ansätzen für die Qualität öffentlicher Dienstleistungen.
Herr Naundorf, wir haben Sie vor ein paar Wochen am Creative Bureaucracy Festival in Berlin getroffen. Vielen Dank, dass Sie sich für die Weiterführung des Gesprächs Zeit nehmen. Worum geht es bei Ihrer Arbeit im Referat für bessere Rechtsetzung? Können wir uns die Geschäftsstelle als eine Art Bürokratie-TÜV vorstellen?
Der Begriff Bürokratie-TÜV wäre, auf uns bezogen, irreführend und würde eine Rolle nahelegen, die wir nicht einnehmen. Die Aufgabenteilung sieht wie folgt aus: Die Mitarbeiter/innen der Ministerien bereiten Gesetzesentwürfe vor und müssen sich über Bürokratie und Erfüllungsaufwand, die aus den Gesetzen voraussichtlich erfolgen, Gedanken machen. Die TÜV-Funktion kommt dann am ehesten dem unabhängigen Normenkontrollrat zu, welcher die Qualität der geplanten Neuregelungen überprüft, die Bundesregierung berät und Stellung zur Arbeit in den Ministerien nimmt. Das Referat für bessere Rechsetzung ist in diesem Standardverfahren nicht involviert. Wir sind grundsätzlich für die Koordination und Kontrolle der Umsetzung des Programms Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung zuständig. Unseren Auftrag beschreiben wir in etwa so: Wir vom Bundeskanzleramt koordinieren, die anderen arbeiten. (lacht)
Wie kontrollieren Sie die Umsetzung des Programms Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung, und welche Rückschlüsse lassen die Ergebnisse zu?
Wir betrachten die Belastung, die durch die Gesetzesartikel entstehen. Belastung heisst in diesem Sinne nichts anderes als der Erfüllungsaufwand für die Gesetze, Zeit und Geld beispielsweise. Um diese zu berechnen, beginnen die Kolleginnen und Kollegen aus den Bundesministerien mit der qualitativen Beobachtung des typischen Einzelfalls und rechnen diesen dann anhand der Fallzahl hoch. Somit wird der Erfüllungsaufwand sowohl mit quantitativen als auch mit qualitativen Methoden gemessen.
Dies ist insofern wichtig, weil wir uns von der Vorstellung befreien müssen, dass quantitative Erhebungen und damit Zahlen Entscheidungen abnehmen können. Politik lässt sich nicht durch Mathematik ersetzen. Wir nehmen jedoch quantitative Erhebungen im Vergleich zu qualitativen oft als repräsentativer wahr und glauben, durch den Bezug auf Statistiken weniger angreifbar zu sein. Dabei wissen wir alle, dass Statistiken ihre Schwächen haben. Es kann sein, dass die Zahlen die Lebensrealitäten und die Wirksamkeit einer existierenden oder gedachten Vorschrift überhaupt nicht umfassend und richtig darstellen und sich die Betroffenen deshalb nicht in den Statistiken wiedererkennen. Diese Erkenntnis haben wir im Laufe des Programms gewinnen können. Sie stellt eine wichtige Wirkung des Programms dar. Wir ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass wir die Erlebnisse und Wahrnehmungen der Menschen viel mehr miteinbeziehen sollten. Dadurch kommen wir natürlich automatisch auf das Thema Partizipation.
Wenn wir unsere Arbeit und deren Ergebnisse abstrakt betrachten, gibt es natürlich quantitative Kennzahlen, die deutlich zeigen, dass die Belastung insgesamt gesunken ist. Der Bürokratieabbau und vor allem auch das Konzept “Erfüllungsaufwand” sind jedoch nicht die einzigen Faktoren, die für die Beurteilung eines Gesetzes eine Rolle spielen. Sie sind in eine umfassende Erörterung von verschiedenen Aspekten eingebettet, die den Politikerinnen und Politikern helfen sollen, Gesetzesentwürfe zu bewerten und ihre Entscheidungen zu treffen. Weitere Aspekte sind beispielsweise die Auswirkung des Gesetzes auf die Geschlechtergleichstellung, auf soziale Verhältnisse und auf die Wettbewerbsfähigkeit.
Können Sie Ihre Aussage, dass Politik nicht durch Mathematik ersetzt werden sollte, noch etwas weiter ausführen?
Es ist ein verführerischer Gedanke, tiefere Belastung - das heisst ein geringerer Erfüllungsaufwand - direkt mit grösserem Nutzen gleichzustellen. Dies ist falsch. Nutzen kann unterschiedliche Formen annehmen und die Qualität eines Gesetzesentwurfs lässt sich nicht durch eine Kennzahl beurteilen. Politik ist im Grunde genommen nichts anderes als wertbasierte Entscheidungen zu treffen. Ein Kennzeichen der Demokratie ist, dass verschiedene Parteien auf derselben Datengrundlage zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Dies ist keinesfalls ein Fehler, sondern die Essenz der Demokratie.
Was waren weitere Wirkungen und Erfolge Ihrer Arbeit der letzten zwölf Jahre?
Zunächst die Tatsache, dass nun alle Abläufe und Auswirkungen der Gesetze beobachtet werden können. Dies erlaubt es uns, einzugreifen und negativen Entwicklungen entgegenzusteuern. Als weitere grosse Wirkung würde ich die zahlreichen Vereinfachungsvorhaben bezeichnen, von denen man viele positive Geschichten erzählen könnte. Diese Vorhaben versuchen wir auch systematisch zu vervielfachen, aber die Umsetzung hängt natürlich von den beteiligten Behörden ab.
Die vielleicht wichtigste Wirkung des Programms stellt die Veränderung in der Arbeitsweise der Bundesregierung dar, welche in den letzten zwölf Jahren stattgefunden hat. Beispielsweise hat die Bundeskanzlerin in ihrem Grusswort zu unserem Jahresbericht 2016 darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, den Betroffenen zuzuhören.
Wie wird Partizipation im Arbeitsablauf der Bundesregierung konkret verwirklicht? Wo wird jetzt stärker hingehört?
Wenn man die Website der Bundesministerien anschaut, lässt sich direkt feststellen, dass eine stark arbeitsteilige und föderale Regierungsorganisation besteht. Dies mag für die Schweiz nicht ganz so überraschend sein. Aber somit gibt es keine zentrale Stelle für Bürgerbeteiligung. Auf den Websites der verschiedenen Ministerien kann man jedoch sehen, was für Projekte diese im Bereich Bürgerbeteiligung schon durchgeführt haben. Das Umweltministerium hat letzte Woche beispielsweise einen strukturierten Bürgerdialog zum Thema Insektenschutz gestartet, um Ideen und Erfahrungen der BürgerInnen in die Entwicklung eines Programms für den Schutz von Insektenarten einfliessen zu lassen. Der Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin, in dessen Rahmen sie Ideen für die Zukunft Deutschlands von Fachleuten aus Wirtschaft, Praxis und Zivilgesellschaft aufgenommen hat, geht in eine ähnliche Richtung. Da der Weg zwischen Ministerium und BürgerInnen sehr weit sein kann, ist der entsprechende Kommunikationskanal und die Bereitschaft in den Ministerien zentral. Es ist sicherlich noch nicht perfekt, aber wir sind dran, und es gibt eine wachsende Bereitschaft genauer hinzuhören.
Eine solche Bereitschaft hat auch mit der Organisationskultur und dem Bewusstsein, dass man diese Partizipation nun möchte und braucht, zu tun. Ist dieser Prozess steuerbar? Fördert man diese Partizipationskultur aktiv oder kommt sie durch gesellschaftliche Prozesse jenseits klassischer politischer Steuerbarkeit zustande?
Dies ist schwierig zu beantworten. Die zivilgesellschaftliche Nachfrage nach Partizipation und damit auch der Druck ist definitiv gestiegen. Dies führt auf Seiten der Politik zu Verunsicherung, da die traditionelle Rollenverteilungen in Frage gestellt werden. Insofern glaube ich nicht, dass gesellschaftliche Nachfrage und der Druck alleine zu mehr Bereitschaft führen. Es müssen andere Anreize innerhalb der Ministerien bestehen, dass gewisse Kolleginnen und Kollegen dieses Wagnis eingehen. Ich denke, diese Bereitschaft für partizipative Prozesse wird zunehmend kultiviert. Heute wird dies zum wünschenswerten Verhalten, das auch unterstützt wird. Aber einen Masterplan “Partizipation” gibt es nicht. Veränderungen finden statt, aber nicht an allen Stellen und bei jeder Gelegenheit. Dies zeigt sehr gut, wie schwierig es ist, die vielen vorhandenen Ideen in die Arbeitsabläufe zu integrieren.
Welche Beispiele für die gelungene Einbindung in Arbeitsabläufe kennen Sie?
Es existieren eine ganze Reihe von verschiedenen Dialogformaten mit Leuchtturmwirkung, wie zum Beispiel der erwähnte Zukunfts- und Bürgerdialog.
Dabei sind zwei Konzepte zentral: Einerseits muss das Ziel ein “strukturiertes Zuhören” sein. Beispielsweise hat das Bundesministerium für Finanzen in einem gemeinsamen Projekt mit dem Referat “Wirksam regieren” im Bundeskanzleramt Bürgerinnen und Bürger beim Ausfüllen von Steuerformularen in einem sogenannten “Formularlabor” begleitet und befragt und so die Verständlichkeit der Formulare untersuchen können.
Das andere Konzept stellt die “aufsuchende Beteiligung” dar. Dies bedeutet, man zieht nicht einfach Experten bei, sondern geht direkt in die Lebensrealitäten hinein und auf die Leute zu. So hat der Gesundheitsminister Jens Spahn eine Bürgerin direkt bei ihr zu Hause besucht, nachdem diese sich über Aussagen von ihm echauffiert hatte. Das sind kleine Signale mit grosser Wirkung und man erfährt etwas über die Lebenswirklichkeit derer Menschen, die danach auch von einem Gesetzesartikel betroffen sind.
Was denken Sie über die Einführung der Bürokratiebremse, die “One in, one out”-Regel, welche besagt, dass für jedes neue Gesetz ein bestehendes aufgehoben werden muss?
Bei uns gibt es in der ganzen politischen Breite eine grosse Begeisterung für “One in, one out”. Es ist ein Instrument, das man gut erklären kann: Kommt irgendwo ein Euro Belastung dazu, muss irgendwo ein Euro Belastung weg. Auch die Ergebnisse können sich sehen lassen.
Wir erkennen aber auch, dass hier möglicherweise Angaben und politische Botschaften ausgesendet werden, die im konkreten Einzelfall im Widerspruch zum persönlich Erlebten stehen. Wenn jemand den Bericht der einen Behörde liest und sieht, dass die Bürokratiebremse wirkt und gleichzeitig gerade einen nervenaufreibenden und frustrierenden Kontakt mit einer anderen Stelle hat, dann fehlt die Kohärenz. Ich bin der Meinung dass “One in, one out” gut als Frühwarnsystem in einer Regierung funktioniert. Es verstärkt die Aufmerksamkeit und erleichtert die Beobachtung, aber man sollte dieses Instrument nicht losgelöst von den anderen betrachten und überbewerten.
Sie arbeiten seit Beginn des Programms Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung im Jahr 2006 für das Bundeskanzleramt. Wie haben sich Ihre Arbeit und die Aufgaben Ihrer Geschäftsstelle in dieser Zeit verändert?
Das ist jetzt vielleicht etwas plakativ ausgedrückt, aber am Anfang wurden wir regelrecht beschimpft. Die Mitarbeitenden in den Ministerien haben uns vorgeworfen, dass wir versuchen würden, die Gesetzgebung zu behindern und eine in ihren Augen unverantwortliche Deregulierung als Ziel hätten. Das ist heute anders. Es gibt eine hohe Bereitschaft sich mit diesen Fragen zu befassen. Natürlich gibt es immer noch unterschiedliche Meinungen, aber die Diskussion wird nicht mehr so emotional geführt und wir sind auch nicht mehr der gleichen aggressiven Gegenwehr ausgesetzt. Eine weitere positive Entwicklung ist das wachsende Verständnis für die Problemlagen von Recht und Verwaltung auf der einen und Wirtschaft und BürgerInnen auf der anderen Seite.
Unsere Arbeit hat sich ebenfalls verändert. Zu Beginn war die Bürokratiekostenkontrolle das Hauptthema. Mittlerweile gibt es eine viel grössere Vielfalt an Themen. Es ist ein wechselseitiger Lernprozess und eine ständige Entwicklung, begünstigt auch durch den Erfahrungs- und Wissensaustausch mit Organisationen wie dem staatslabor. Das ist ein gutes Zeichen.
Der Diplom-Politikwissenschaftlicher Stephan Naundorf arbeitet seit 2006 im Referat für bessere Rechtsetzung im Bundeskanzleramt. Er unterstützt den Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Koordinator der Bundesregierung für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung, Dr. Hendrik Hoppenstedt MdB, in diesem Bereich unmittelbar und verantwortet die Zusammenarbeit mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft, mit den Bundesländern und der Wissenschaft, die Kontakte mit den Fraktionen des Deutschen Bundestages sowie die Fortentwicklung des Regierungsprogramms. Ausserdem wirkt er in der entsprechenden Arbeitsgruppe der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit und organisiert den Erfahrungsaustausch mit Frankreich.
Referat für bessere Rechtsetzung
Im Jahr 1984 hat sich die deutsche Bundesregierung erstmals für die Einführung eines Programms zum Bürokratieabbau entschieden. Zu Beginn handelte es sich dabei um ein blaues Papier mit einer Checkliste bestehend aus zehn Fragen, die man bei der Erarbeitung von neuen Gesetzen zurate zog. In den 90er Jahren folgte daraufhin eine Phase der Kodifizierung, in welcher zwischen 35 und 40 Regeln mit inhaltlichen Anforderungen an die Gesetzesentwürfe in die gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien integriert wurden. Seit 2006 koordiniert und kontrolliert das Referat für bessere Rechtsetzung im Bundeskanzleramt die Umsetzung des Programms Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung. Der unabhängige Normenkontrollrat wacht als eine Art "Bürokratie-TÜV" darüber, dass dieser Aufwand so gering wie möglich gehalten wird.