Vor vier Jahren hat eine weitreichende Gesetzesreform einem Kanton Kompetenzen zur Planung eines Versorgungssystems übertragen, die zuvor bei den Gemeinden lagen. Eine Begleitgruppe, anders konzipiert als üblich, hat den Kanton, trotz anfänglicher Skepsis, mit tiefen Einblicken aus der Praxis über drei Jahre hinweg begleitet. Dank der intensiven Beteiligung hat der Kanton die Planung des Versorgungssystems an den Bedürfnissen der Akteure ausrichten können, welche die Versorgung am Ende gewährleisten müssen. Der Beteiligungsprozess liefert hilfreiche Erkenntnisse für die Gestaltung wirksamer Beteiligungsverfahren.
von Danny Bürkli und Ivo Scherrer
Öffentliche Verwaltungen stehen vor einer grundlegenden Herausforderung: Wie können sie in einer zunehmend komplexen Welt steuern und planen?
Die klassische Top-down-Steuerung stösst regelmässig an ihre Grenzen. Dafür gibt es zwei Gründe.
Erstens braucht es für weise Entscheidungen in komplexen Systemen verschiedene Perspektiven unterschiedlichster Akteure. Die öffentliche Verwaltung verfügt zwangsläufig nur über einen Ausschnitt des relevanten Wissens. Ohne die Erfahrungen und Einsichten anderer Akteure plant die öffentliche Hand mit blinden Flecken.
Zweitens erwarten Betroffene, in Entscheide einbezogen zu werden. Diese Erwartung ist berechtigt, denn weitreichende Entscheidungen verlangen nach der entsprechenden Legitimation.
Beteiligungsprozesse sind für langfristige Planung also doppelt wichtig. Gleichzeitig bergen sie aber viele Schwierigkeiten. Wer soll seine Perspektiven einbringen dürfen? In welcher Form? Und bei wem liegt am Ende die Verantwortung für schwierige Entscheide?
Damit die Balance zwischen Beteiligung und Verantwortung gelingt, sind neue Formen der Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Verwaltung und wichtigen Anspruchsgruppen gefragt. Statt oberflächlicher "Partizipation" braucht es einen kontinuierlichen Prozess des gegenseitigen Lernens.
In diesem Artikel teilen wir unsere Erfahrungen aus einem solchen Beteiligungsprozess, den wir über drei Jahre lang zu einer hoch komplexen und dringlichen gesellschaftlichen Herausforderung haben begleiten dürfen. Dabei haben wir gelernt, wie aus anfänglichem, gegenseitigen Misstrauen eine produktive Zusammenarbeit entstehen kann.
Ausgangslage: eine Gesetzesänderung, eine Begleitgruppe und Stahlhelme
Anlass für den Beteiligungsprozess hat eine Gesetzesrevision gegeben, welche die Verantwortung für die Planung, Kontraktierung und Aufsicht von gewissen Leistungen von Gemeinden zum Kanton verschiebt. Für die Leistungserbringer wie auch die Leistungsempfänger steht viel auf dem Spiel.
Das Gesetz sieht vor, dass der Kanton die Anspruchsgruppen aus dem System "in die Erarbeitung” einer Gesamtplanung des Systems “einbezieht".
Wie sollte das zuständige Amt diesen Einbezug genau gewährleisten und gestalten?
Gemeinsam mit dem kantonalen Amt haben wir eine Begleitgruppe mit 14 Mitgliedern aus verschiedenen Bereichen des Versorgungssystems zusammengestellt. Diese Begleitgruppe trifft sich nun seit knapp drei Jahren vier Mal im Jahr.
Die Arbeit aufgenommen haben wir in einer Atmosphäre des Misstrauens. In Vorgesprächen haben mehrere zukünftige Mitglieder der Gruppe den Verdacht geäussert, dass der ganze Prozess zu einer “Farce” verkommen würde – dass keine echte Partizipation gefragt sei. Andere befürchteten, dass die Diskussionen aggressiv und unangenehm werden würden.
Heute, drei Jahre später, vertreten die Teilnehmer:innen der Begleitgruppe weiterhin unterschiedliche Interessen und tragen auch weiterhin Konflikte aus. Doch herrscht eine produktive Arbeitsatmosphäre. Die Mitglieder vertrauen sich gegenseitig und dem Amt deutlich mehr als zu Beginn.
Einige Teilnehmer:innen der Begleitgruppe haben uns zu ihrer eigenen Verblüffung erzählt, sie würden sich inzwischen sogar ein kleines bisschen auf die Treffen freuen. Der metaphorische Stahlhelm, den verschiedene Teilnehmende zu Beginn nach eigener Aussage jeweils zu den ersten Treffen mitgebracht haben, bleibt inzwischen im Schrank.
Drei Leitfragen für die Gestaltung von Begleitgruppen
Aus der engen Zusammenarbeit mit dem Amt und der Begleitgruppe haben wir viel dazu lernen können, welche Gestaltungselemente für einen solchen Partizipationsprozess zentral sind.
Damit ein Beteiligungsprozess gelingen kann, müssen als erstes drei Grundfragen geklärt werden.
1) Soll das Gremium beraten oder entscheiden?
Das Gesetz, welches die Grundlage für unsere Arbeit bildet, ist eindeutig: Am Ende des Beteiligungsprozesses entscheidet das Amt. Verschiedene Akteure des Systems müssen in den Planungsprozess einbezogen werden, haben aber keine Mitentscheidungsgewalt.
Von Beginn weg haben wir diese Tatsache den Mitgliedern der Begleitgruppe deutlich kommuniziert. Ihre Aufgabe würde sein, das Amt zu beraten, um sicherzustellen, dass alle Perspektiven auf die komplexe Gemengelage in den Entscheidprozess einfliessen. Am Ende würde das Amt nach Anhörungung aller Positionen und Abwägung aller Argumente entscheiden.
Während gewisse Mitglieder der Begleitgruppe bestimmt gerne auch mitentschieden hätten, hat diese Klarheit zu einer Entspannung geführt: Wer nicht entscheiden darf, aber auch nicht muss, kann sich darauf fokussieren, seine eigene Perspektive zu vertreten.
2) Soll das Gremium gemeinsam Position beziehen oder sollen die individuellen Mitglieder für sich sprechen?
Zu Beginn des Begleitprozesses hat sich auch die Frage gestellt, ob die Begleitgruppe gemeinsame Positionen, d.h. in corpore Stellung beziehen sollte, oder ob alle Mitglieder der Begleitgruppe für sich selbst sprechen sollten.
Unsere Empfehlung war, die einzelnen Teilnehmer:innen für sich selbst sprechen zu lassen.
So mussten die Mitglieder des Gremiums sich nicht gegenseitig überzeugen und konnten sich darauf fokussieren, ihre eigenen Perspektiven zu teilen und einander offen zuzuhören. Hätte das Gremium hingegen in corpore Position beziehen müssen, hätten wir sehr viel Zeit in die Erarbeitung von Kompromissen investieren müssen, die nicht unbedingt viel Wissensgewinn gebracht hätten.
3) Sind die Mitglieder des Gremiums ad personam dabei oder ex officio?
Das Gesetz verlangt, dass alle Anspruchsgruppen aus dem betroffenen System in der Begleitgruppe vertreten sind. Gleichzeitig hat das Amt einzelne Individuen persönlich für die Teilnahme in der Begleitgruppe angefragt – mit dem Ziel, über längere Zeit einen vertieften Austausch zwischen all diesen Personen zu ermöglichen.
Dass die Teilnehmer:innen ad personam in der Begleitgruppe vertreten sind, verhindert auch, dass sich die Mitglieder der Begleitgruppe als reine Vertreter:innen ihrer Organisationen sehen und sich auf das rituelle Verlesen bereits bekannter Positionen bescheiden.
Sieben Designprinzipien für erfolgreiche Beteiligung
In der Rückschau sehen wir sieben Erfolgsfaktoren, welche die Zusammenarbeit in der Begleitgruppe erfolgreich gemacht haben:
1) Beziehungen priorisieren
Eine Zusammenarbeit verschiedener Vertreter:innen unterschiedlicher Interessengruppen kann nur dann fruchtbar sein, wenn vertrauensbasierte Arbeitsbeziehungen zwischen allen Mitgliedern entstehen. Aus diesem Grund haben wir auch keine Stellvertretungen erlaubt.
Die Regelung war nicht unbedingt beliebt, aber wirksam. Denn sie hat uns erlaubt, Diskussionen über mehrere Sitzungen hinweg zu verfolgen, ohne jedes Mal wieder von vorne beginnen zu müssen.
2) Angenehme Arbeitsatmosphäre schaffen
Einige der Mitglieder der Begleitgruppe hatten eine teilweise konfliktuelle gemeinsame Vorgeschichte. Zu Beginn haben wir mehrmals die Befürchtung gehört, dass die Sitzungen unangenehm und emotional aufreibend ablaufen würden.
Vor diesem Hintergrund haben wir in eine angenehme und respektvolle Arbeitsatmosphäre investiert. Wir haben explizite Verhaltensregeln festgelegt, mit interaktiven Elementen den Beziehungsaufbau gefördert und als Moderatoren dafür gebürgt, dass alle Gespräche sachlich und anständig geführt werden – etwa in dem wir systematisch Verständnisfragen und Reaktionen getrennt haben.
3) Alle zu Wort kommen lassen
Wer Verbandspräsident:innen und andere Interessenvertreter:innen in eine Begleitgruppe einlädt, ist notwendigerweise mit starken Persönlichkeiten konfrontiert. Gleichzeitig haben manchmal die stillsten Teilnehmenden die wichtigsten Dinge zu sagen.
Aus diesem Grund haben wir Gesprächsformate gewählt, welche alle Teilnehmenden zu gleichen Teilen zu Wort kommen lassen.
4) Komplexität sichtbar machen
Im fortlaufenden Austausch haben die Mitglieder der Begleitgruppe einen Einfluss aufeinander, wie sie auf das Versorgungssystem, bzw. Politikfeld schauen. Dank der Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven haben wir Missverständnisse verhindern und Misstrauen verringern können, die rasch entstehen, wenn den beteiligten Akteuren nicht klar ist, wer eigentlich in welchen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen arbeitet.
Die gemeinsame Diskussion hat auch möglich gemacht, den Blick auf das zu richten, was am Ende am meisten zählt: das Wohl der Empfänger:innen der Leistungen, welche das Versorgungssystem hervorbringt. Die gemeinsame Orientierung an übergeordneten Zielen hat dabei auch dazu beigetragen, bestehende Interessenskonflikte besser aushalten zu können.
Die gemeinsamen Diskussionen haben auch deutlich gemacht, wie anspruchsvoll die Steuerungsaufgabe des Amtes ist, das verschiedene, teils konfligierende Ziele verfolgen und unzähligen Interessen gerecht werden muss. Während nicht alle Mitglieder der Begleitgruppe mit den Entscheiden einverstanden sind, die das Amt am Ende getroffen hat, ist das Verständnis dafür gewachsen, dass in diesem Politikfeld keine einfachen und offensichtlichen Lösungen existieren.
5) Institutionelle Wertschätzung vermitteln
Der Amtsleiter ist bei allen Sitzungen der Begleitgruppe anwesend und beteiligt sich aktiv. Er signalisiert so seine Wertschätzung gegenüber den Mitgliedern, die sich immer wieder mehrere Stunden Zeit für die Arbeit in der Gruppe nehmen.
Wie bei jedem Beteiligungsprozess fragen sich alle Anwesenden, ob sich die Teilnahme lohnt, oder ob sie (wieder) enttäuscht werden und in einem Pseudopartizipationsprozess verhocken, in dem ihre Stimme am Ende doch nicht zählt. Gerade zu Beginn hat diese hochrangige Präsenz des Amts entscheidend dazu beigetragen, die Glaubwürdigkeit des Beteiligungsprozesses zu stärken.
6) Rechenschaft ablegen
Die Logik der Entscheidfindung im Gremium ist allen bekannt: Der Kanton stellt Fragen, holt Expertisen ein und hört Meinungen an. Am Ende entscheidet das Amt, verpflichtet sich aber dazu, seine Entscheidungen zu erläutern und transparent zu machen, wie die eingebrachten Argumente in die Entscheidungsfindung eingeflossen sind.
Der Kanton legt auf diesem Weg gegenüber der Begleitgruppe immer wieder Rechenschaft ab – was wiederum das Vertrauen der Begleitgruppe in den Planungsprozess stärkt.
7) Den roten Faden betonen
Beteiligungsprozesse, die sich über Jahre erstrecken, und die erst am Ende von Legislaturperioden Früchte tragen, erfordern viel Geduld und einen langen Atem. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit der Gruppe, sich immer wieder auf konkrete Diskussionen einzulassen, ohne das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren.
Um die Balance zwischen gegenwärtiger Dringlichkeit und langfristigem Planungsinteresse zu halten, und um für alle klar zu machen, wann wir welche Fragen angehen, haben wir auf ein detailliertes Prozessdesign und konsequentes Retroplanning gesetzt.
Den Stahlhelm verstauben lassen und gemeinsam weiser werden
Was als Pflichtübung begonnen hat – "die Anspruchsgruppen einbeziehen" – hat sich zu einem wertvollen Instrument der Politikgestaltung entwickelt. Nicht weil alle Beteiligten plötzlich einer Meinung sind. Sondern weil das Amt einen Rahmen geschaffen hat, in dem unterschiedliche Perspektiven gehört werden und in die Entscheidungsfindung einfliessen. So kann das Amt am Ende des Beteiligungsprozesses robustere und besser abgestützte Entscheide treffen.
Erfolgreiche Beteiligung braucht klare Spielregeln, sorgfältige Moderation und echtes Interesse am Gegenüber. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann aus anfänglichem Misstrauen echte Zusammenarbeit entstehen.